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PAUL
Es ist der zweite Juni. Wir sind in der bislang trockensten und menschenleersten Gegend
unterwegs. Von einem Hochplateau haben wir einen atemberaubenden Blick über eine
wüstenähnliche Ebene. Wir halten kurz an, um die Propellerkamera auf meinem Helm
zu befestigen, sodass wir die Abfahrt mit der rotierenden Kamera Marke Eigenbau filmen
können. Wir sind etwa 200 Kilometer vor Aralsk, und sogar bergab schleppen wir uns
langsam gegen den heißen Wind durch dieses unwirtliche Land. Am Horizont sind über
einer flimmernden Hitzeschicht Berge zu erkennen - laut Karte noch mehrere Hundert
Kilometer entfernt. Über der Straße tanzt die heiße Luft, das grelle Licht blendet mich
selbst durch die Sonnenbrille, und mit zusammengekniffenen Augen erkenne ich … das
gibt's doch nicht, was ist das denn? Da steht ein Mann und winkt. Mitten im Nirgend-
wo.
»Hansen! Siehst du das auch?«
»Meinst du das Männlein? Ich dachte, das sei so etwas wie eine Fata Morgana. Was
macht der da?«
Je näher wir kommen, desto deutlicher ist zu erkennen: Da steht tatsächlich jemand,
und hinter ihm erkennen wir eine kleine Bushaltestelle. Die Szene ist skurril, weder die
Bushaltestelle noch die Gestalt machen in dieser Gegend Sinn. Hier ist doch weit und
breit gar nichts. Der Mann winkt weiter. »Fototermin«, murmelt Hansen. Aber irgendet-
was ist anders. Der junge Mann sieht nicht kasachisch aus, und es scheint fast, als erwar-
tete er uns. Er trägt eine weiße, kurze Camouflage-Hose, Turnschuhe und Socken, ein
weißes Feinripp-Unterhemd und als Kopfbedeckung eine goldbestickte muslimische
Kappe. Um den Hals baumeln Kopfhörer und ein Schal. Als er uns anspricht, tut er das
auf Deutsch mit einem deutlichen Kölner Akzent. Ich bin total perplex.
»Ich bin Nils«, stellt er sich vor. »Mein Spitzname ist Nilsistan. Schön euch endlich
zu treffen.«
»Wie bitte? Woher wusstest du, dass wir kommen?«, frage ich ihn.
»Die anderen Deutschen, die ihr letztens getroffen habt, haben mir gesagt, dass da
zwei Radfahrer in meiner Richtung unterwegs sind.«
Unfassbar, wie der Wüstenfunk funktioniert. Die Welt ist so klein: Nils kommt aus
Köln, ist in China in der Nähe von Chengdu mit dem Rad losgefahren und hat sich mit
einer wirklich beachtlich einfachen Ausrüstung und ohne einen Cent bis hierhin durch-
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