Travel Reference
In-Depth Information
Hansen ist mit der kleinen Reparatur fertig und will losfahren. Die schmächtige Birke
richtet sich auf, als ich sie vom Gewicht meines Fahrrads erleichtere. Hansen schiebt sein
Rad vor mir durch das weiche hohe Gras zurück zur Straße, die Sonne scheint auf meine
in Daugavpils neu erstandene schwarze Fleecejacke, und mir wird endlich warm. Auch
wenn es tagsüber schon richtig heiß ist, in den Nächten ist es gerade mal um die fünf
Grad. Aber der Frühling bahnt sich in Russland an und lässt endlich auf warme Nächte
hoffen. Mein Magen knurrt. Das Frühstück ist ziemlich dürftig ausgefallen - ein Kaffee
und ein trockener Müsliriegel. Geschäfte sind hier selten und die Tankstellen sehr teuer.
Aber wir nehmen es sportlich und sehen es als Training für die wirklich verlassenen Ge-
genden, die uns in Kasachstan und China erwarten.
Obwohl es uns immer schwerer fällt, die für Russland angepeilten Etappen einzuhal-
ten, schaffen wir es mit Ach und Krach. Heute waren es wieder einmal 140 Kilometer.
Kurz bevor wir uns auf Schlafplatzsuche gemacht haben, haben wir bei einem Männlein
am Wegrand angehalten, um ein paar Kartoffeln zu kaufen, die er in einem großen Ei-
mer anbot. »Nur eimerweise!«, sagte der Bauer und verweigerte uns das Geschäft. Als
wir enttäuscht weiterfahren wollten, drückte er Hansen lachend eine Tüte mit Kartoffeln
in die Hand: »Ich verkaufe nur eimerweise, aber die paar kannst du geschenkt haben.«
So gefällt mir das Geschäftemachen. Sie schmecken dann auch extragut.
Vierundzwanzig Stunden später, nach einem harten Sprinttag, liegt Hansen neben mir
im Zelt und schreibt an seinem Blogpost. Im Dunkeln wird sein Gesicht vom iPhone er-
hellt. Konzentriert tippt er mit beiden Daumen, und ich vermute, er schreibt über den
heftigen Streit, den wir heute Morgen hatten. Wir haben uns mal wieder über lächerli-
che Kleinigkeiten total in die Haare gekriegt, mit dem Ergebnis, dass Hansen danach mit
ernster Miene und scharfem Ton sagte: »Ich werde mir bis heute Abend überlegen, ob
ich diese Tour weiterfahren will, ich sehe keinen Grund, mich weiter derart zu quälen!«
Ich weiß nicht, ob das übertrieben war, aber ich konnte ihn in jenem Moment sehr gut
verstehen, mir geht es ganz ähnlich. Es sind die ersten ernsthaften Zweifel an unserem
Vorhaben, dabei sind wir gerade mal 2600 Kilometer weit gefahren. Wir sind schon
jetzt am Ende unserer Kräfte, und die Nerven liegen blank. Wollen wir wirklich so lange
auf so vieles verzichten? Werden wir beide es schaffen, unsere Dickköpfe auf unser ge-
meinsames Ziel hin auszurichten? Wir können nur hoffen, dass alles ein bisschen ent-
Search WWH ::




Custom Search