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Ich muss an das Foto von Michael Rockefeller denken, das ich vor drei Jahren im Me-
tropolitan Museum in New York gesehen habe. Da sitzt ein blonder, blasser Jüngling mit
Button-down-Hemd, Brille und Kamera zwischen ein paar wild aussehenden Ureinwoh-
nern von Neuguinea. Er verschwand bald darauf und wurde nie wieder gesehen. Viel-
leicht von einem Krokodil gefressen, vielleicht von den Asmat selbst … Mir wird kotz-
übel. Klar, Kasachstan ist ein freundliches, einigermaßen zivilisiertes Land. Hier frisst
man keine Radfahrer, aber es spricht eigentlich nichts dagegen, sie zumindest auszurau-
ben und ordentlich zu verprügeln, um ihnen ihre romantisch-abendländische Abenteu-
erlust auszutreiben.
Hinter uns senkt sich langsam die Sonne, und die Straße in einiger Entfernung ist nur
noch durch die Buschreihe und die Reflexionen der vereinzelt passierenden Autos zu er-
kennen. Als der selbst gebaute Ständer meines Fahrrads mit einem leisen Kratzen hinter
uns im sandigen Boden versinkt, zucke ich zusammen. Mir schlägt das Herz bis zum
Hals.
»Hansen«, zische ich meinem Zwillingsbruder zu, der neben mir kauert und seinen
Kopf zwischen den verschränkten Armen versteckt.
Hansen murmelt irgendetwas.
»Hansen, was machen wir bloß?«
Wäre das Ganze ein Horrorfilm und ich ein Zuschauer im Kino, würde ich dem Dar-
steller zurufen wollen: »Lauf weg, renn! Du bist in Gefahr!« Aber ich bin nicht im Kino,
sondern hocke stocksteif vor Angst irgendwo in einem fremden Land. Ich höre Hansen
leise fluchen und vermute, dass er sich gerade ähnliche Gedanken macht. Die Mulde, in
der wir liegen, ist das einzige Versteck weit und breit, also wohin sollten wir fliehen? In
das weite Grasland der Steppe? Auf dem sandigen Boden können wir mit den Rädern
nicht fahren, schon gar nicht mit dem vielen Gepäck. Wenn wir sie jetzt zurücklassen,
um wegzulaufen, müssen wir aufgeben, denke ich, und als ob er meinen Gedanken ge-
lesen hätte, sagt Hansen: »Paul, die finden uns hier nicht. Sie sind stärker, aber wir sind
klüger. Und schneller. Wenn es hart auf hart kommt, rennen wir weg, lassen die ganze
Ausrüstung zurück und scheißen drauf. Bevor die mich kriegen, laufe ich lieber zu Fuß
nach Shanghai!«
Der Tag hatte wie viele andere davor begonnen. Es war unser 43. Reisetag und wir bra-
chen morgens auf, um unsere durchschnittlich etwa 120 Kilometer hinter uns zu brin-
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