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ALGABAS
SASCH / 19. MAI / ALGABAS, KASACHSTAN
PAUL
Da liegen wir nun in einer kleinen Mulde, mitten in der Einöde von Kasachstan, mehr als
3000 Kilometer von zu Hause entfernt, und verstecken uns vor Sasch und seiner betrun-
kenen Bande, die uns eben auf der Landstraße angehalten und verprügelt haben.
Wir verstecken uns mit allem, was man so braucht, wenn man den tollen und viel-
leicht auch völlig verrückten Plan umsetzen will, mit dem Rad von Berlin nach Shanghai
zu fahren: ein kleines Zelt, Schlafsäcke, Werkzeug und Messer, Kleidung, Kompass und
Karte, eine kleine Solaranlage zur Stromversorgung, Kameras, mit denen wir die Fahrt
aufzeichnen, und unsere Pässe - nicht viel, aber jeder Fitzel davon ist umso wichtiger.
In unseren übergroßen, blau-weiß gestreiften langärmeligen Shirts sehen wir ein biss-
chen aus wie ausgebrochene Sträflinge. Die Longsleeves sind aus billigem Stoff, aber mehr
hat unser knappes Budget nicht hergegeben. Wir haben sie in einem Supermarkt irgend-
wo am Straßenrand in Russland gekauft und vorn in die Ärmel Löcher für die Daumen
reingeschnitten. So schützen sie uns einigermaßen vor der Sonne und blähen sich im
Fahrtwind auf wie kleine Segel, was den Rücken angenehm kühlt. Irgendwann ist uns
aufgefallen, dass viele Lkw-Fahrer genau die gleichen Shirts tragen. Wir gehören also in-
zwischen zum Team der Straße.
Es gab einige Momente während der letzten sechs Wochen, in denen ich mich zurück in
mein Bett in der schönen, sonnigen Altbauwohnung in Berlin-Neukölln gewünscht habe,
aber das waren nur kleine, sentimentale Schwächeanwandlungen. Jetzt, in diesem Augen-
blick, zweifle ich zum ersten Mal wirklich. Was für eine haarsträubend dumme Idee! Wie
naiv von uns, zu glauben, die ganze Welt wäre zwei voll bepackten Radfahrern freundlich
gesonnen.
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