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Hansen
Das Russland-Visum nimmt nur eine kleine Seite im Reisepass ein, aber mir ist es gerade
mehr wert als Gold. Selbst wenn es bedeutet, dass wir uns nur zwanzig Tage in Russland
aufhalten dürfen und deshalb die nächsten Wochen ein ordentliches Pensum absolvieren
müssen. Wir haben uns vorgenommen, die nächsten 18 Tage durchschnittlich 120 Kilo-
meter zu fahren. In Moskau legen wir einen Touristentag ein, und einen Tag Puffer
brauchen wir, falls es Probleme an der Grenze zu Kasachstan geben sollte.
Seitdem wir die russische Grenze vor einigen Tagen überquert haben, sah jeder Tag
ähnlich aus. Mit der Grenze zu Russland hat sich auch die Landschaft verändert, als ob
sich die Vegetation an die vom Menschen gesteckten Grenzen halten würde. Die Straße
war kurz hinter der Grenze noch erstklassig, verlor dann allerdings sehr schnell an Güte,
als ob jemand voller Enthusiasmus mit dem Bau begonnen und nach kurzer Zeit die Mo-
tivation verloren hat. Dafür blieb aber die Natur sehr beeindruckend. Gesäumt von üppi-
gen Nadelwäldern, die einem den Blick in die Weite versperren, läuft die Straße über
Berg und Tal. Kaum ein Zentimeter des Waldbodens ist unbewachsen. Zwischen den
meterdicken Eisplacken, die noch vom Winter in den dunklen, kühlen Wäldern liegen,
drängt sich Farn und Moos nach oben, um ein wenig Tageslicht abzubekommen. Ab
und zu passieren wir schaurige kleine Moore, in denen dicht über dem Boden dünne
Nebelschwaden wabern und tote Baumstämme wie Mahnmale einer Geisterwelt in den
Himmel ragen. Hin und wieder treffen wir auf Menschen, die an der Straße unter ande-
rem getrockneten Fisch, Fleisch, Honig und etwas, das ich zunächst als eingelegte Birne
missverstehe, verkaufen. Ich bin ein Fan von eingemachtem Obst, also bleiben wir sofort
stehen, als ich die appetitlichen Gläser entdecke.
»Können wir davon ein paar haben?« Ich zeige auf das Glas und zähle an meiner
rechten Hand bis fünf.
Paul unterbricht mich. »Warte mal, ich weiß nicht, ob es das ist, wofür du es
hältst …«
»Wieso? Was soll das denn sonst sein?«
Paul spricht die Frau an: »Sind das Birnen?« Er pflückt in der Luft ein paar imaginäre
reife Früchte, in die er genüsslich hineinbeißt.
Die Frau lacht, schüttelt den Kopf, zeigt zwischen ihre Beine und formt mit der ande-
ren Hand ein Körbchen.
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