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Jeans - zumindest für die ersten Kilometer, bis man etwas aufgewärmt ist, denn dann
wird die Jeans gegen eine Badehose ausgetauscht. Oben herum: langes Unterhemd aus
Merinowolle (genau das, was einem Mütter im Winter empfehlen, man aber selbst zu
unsexy findet), die 200er-Fleecejacke (nur ich …) und darüber den Windbreaker. An-
fangs haben wir auch noch Handschuhe getragen. Immerhin hat die Prozedur den glei-
chen Effekt wie eine kalte Morgendusche - man ist in kürzester Zeit hellwach! »Fertig«,
rufe ich Paul ins Zelt zu; jetzt ist er an der Reihe.
Endlich fahren wir los. So langsam wird die Landschaft wieder hügeliger. Kleine Seen
und Bäche schlängeln sich in den Tälern und lassen die umliegenden, von Feldern über-
zogenen Hügel aussehen wie rasierte Köpfe. Traktoren ziehen riesige Pflüge und schwar-
ze Rauchwolken hinter sich her, während sie Felder bestellen, die so groß sind, dass
man Tage bräuchte, um drumherum zu laufen. Von manchen kann man das Ende nur
erahnen, an einem der dunklen Waldränder am Horizont oder da, wo sich im Dunst die
Silhouetten einer Ortschaft abzeichnet. Wir haben uns entschieden, weniger nach Karte
und mehr nach Navigationsgerät zu fahren. Das hat den Vorteil, dass wir kleinere, unbe-
fahrenere Straßen nehmen können, welche zudem auch meist die kürzere Route darstel-
len. Der Nachteil ist, dass sie manchmal, nachdem man schon viele Kilometer gefahren
ist, plötzlich zu unwegsamen Sandpisten und Schlammlöchern werden, die einem mit
dem schweren Fahrrad den Schweiß ins Gesicht treiben.
Gestern wurde eine Straße plötzlich zu einem Privatweg, von dem uns ein Bauer
wegjagte. Die Alternative war ein morastiger Pfad durch schulterhohe junge Weiden und
gelbes Gras, der uns erst mehrere Kilometer später wieder auf eine anständige Straße
führte. Witzig, wenn man bedenkt, dass dieser Pfad der Weg nach Shanghai ist. Hätten
wir den Bauern gefragt: »Entschuldigung, ist dies der Weg nach Shanghai?«, hätte der
uns wahrscheinlich mit der Mistgabel ins nächste Irrenhaus getrieben.
Je näher wir der litauischen Grenze kommen, desto weniger Siedlungen und Dörfer fin-
det man. Auch die Landwirtschaft scheint die Grenze zu meiden. Es gibt endlose Wiesen,
auf denen vereinzelt kleine Tannen stehen, als ob man sie nach Weihnachten wieder ein-
gepflanzt hätte. Das gelbe Gras auf den Wiesen ist lang und vom Schnee im Winter platt
auf den Boden gedrückt, hier und da steht noch ein Stängel von einer Pflanze, die dem
Druck des Schnees widerstehen konnte. Niedrige Büsche säumen die Wiese, bevor sie in
einen lichten Mischwald übergeht, aus dem hohe, windschiefe Kiefern emporragen.
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