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fahren. Aber uns bleibt hier nichts anderes übrig. Der Gletscher sieht von unten bedroh-
lich aus, riesig ragen die blau-weiß leuchtenden Eiswände über unseren Köpfen in den
Himmel. Wir halten einen Sicherheitsabstand, sodass eventuell abbrechendes Eis uns
nicht erreichen kann, trotzdem fühle ich mich unwohl. Die Durchquerung der Bäche,
von denen uns einer beinahe mitsamt Fahrrad mit sich reißt, ist schon enorm anstren-
gend, aber viel schlimmer ist der Aufstieg auf der anderen Seite des Gletschertals. Kein
Pfad oder Weg führt hindurch. Alle fünf Meter machen wir Pause, ich bin der Verzweif-
lung nahe: »Das schaffen wir nicht«, rufe ich Hansen völlig außer Atem zu. »Das ist viel
zu steil! Bis es dunkel ist, haben wir nur noch drei Stunden.« Hansen beruhigt mich und
rechnet mir seinen Zeitplan vor: »Zwei Stunden bis zu den Flaggen, und dann eine Stun-
de abfahren, das reicht!«
Immer wieder läuft einer von uns ohne Rad vor, um einen möglichst flachen Aufstieg
zu erkunden. Meine Lunge brennt von der Kälte und Anstrengung, und natürlich fängt
es erneut an zu schneien. In einem fort muss ich mir in Erinnerung rufen, was ich beim
ersten Anblick des Gletschers gedacht habe: Ich hätte Hansen hier hochgetragen, es ist
jede noch so schlimme Anstrengung wert! Aber es fällt immer schwerer, mir selbst Mut
einzureden. Hinter jedem Hügel kommt ein neuer, die Schiebeintervalle werden immer
kürzer, und als ich kurz davor bin aufzugeben, erreichen wir endlich die flachere, ober-
halb der Wand des Gletschertals liegende Hügellandschaft, auf deren höchstem Hügel
unser gestecktes Ziel liegt. Zwar haben wir die steile Böschung des Gletschertals hinter
uns gebracht, aber bis zum Gipfel sind es noch mal so viele Höhenmeter. Es geht zwar
flacher bergauf, aber der Boden ist durchweicht vom Schmelzwasser, und die Räder sin-
ken immer wieder bis fast zur Achse ein. Das Schieben ist so unendlich anstrengend. Ich
versuche, anstatt der Schiebeintervalle von fünf Metern in einen sehr langsamen Rhyth-
mus zu kommen, alle zwei Sekunden ein Schritt, und so schaffen wir es letztendlich auf
den Gipfel. Während ich beim Aufstieg konzentriert vor mich auf den Boden geschaut
und die Landschaft um mich herum kaum wahrgenommen habe, blicke ich nun um
mich und traue meinen Augen nicht. Wie schon auf dem vorherigen Pass reißt die Wol-
kendecke auf, und die Sonne strahlt mit aller Kraft durch die letzten Wolkenfetzen hin-
durch. Der eben noch verhangene Blick über das Tal und die Berge wird frei, und mir
bleibt vor Staunen die Luft weg. In meinem gesamten Leben habe ich keinen solchen
Blick gehabt. Ich lasse mein Fahrrad fallen und drehe mich langsam im Kreis. Hinter mir
erheben sich die 6000 Meter hohen Berge, der Wind bläst den Schnee von den Gipfeln
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