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die Zeit zu sparen, die wir durch Hansens Hexenschuss verlieren. Und so kurz vor dem
Ziel wäre das besonders schmerzhaft. Und er hat recht.
Also beschließe ich, aktiv zu werden, das Rumgeliege macht mich nur noch fertiger.
»Paul, hilf mir, ich muss irgendwie versuchen aufzustehen, im Liegen wird es nur
schlimmer.« Ich stehe auf und stütze mich gebückt, wie ein altes Männlein, auf den Len-
ker meines Rads. »Ahhh, so geht's besser«, seufze ich erleichtert. »Echt?«, fragt Paul un-
gläubig. Und dann analysiert er: »So wie du da stehst, ist das doch genau die Haltung,
die du beim Fahren einnimmst.«
»Klar, lass uns einfach weiterfahren«, gifte ich zurück. Aber Moment … eigentlich
könnte ich es ausprobieren. »Komm, hilf mir aufs Rad, ich will sehen, ob es geht.« Mü-
hevoll hebe ich ein Bein über das Oberrohr, und als ich mich auf den Sattel niederlasse,
kann ich es kaum glauben. »Es geht, es geht wirklich, so ist es am allerangenehmsten«,
lache ich Paul zu. Während ich noch auf meinem Fahrrad entspanne, packt Paul alles zu-
sammen. »Als ich meinen Hexenschuss hatte, hat mein Arzt mir empfohlen, mich so viel
es geht zu bewegen«, erklärt er mir dabei. »Solange es nicht weh tut, ist das die beste
Therapie!«
Als wir losfahren, stelle ich erneut fest: »Paul, kein Scheiß, das ist wirklich die ange-
nehmste Haltung, nur anhalten kann ich nicht, das tut weh.« Und tatsächlich: Solange
ich fahre, bin ich schmerzfrei. Nur in den Pausen schleiche ich in gebückter Haltung
und vor Schmerz stöhnend umher. »Das ist Evolution«, lacht Paul. »Du bist vom auf-
recht gehenden Menschen zum Radfahrer geworden!«
Langsam aber sicher nähern wir uns dem Pass, den wir überqueren müssen, um in
das Tal zu kommen, an dessen Ende Kudi liegt. Die Straße nimmt immer alpinere For-
men an, schlängelt sich in den abenteuerlichsten Serpentinen die unglaublichen Steilhän-
ge hoch. Immer wieder sind Teile der Straße abgerutscht und mit fast niedlich aussehen-
den bunten Gebetsflaggen »gesichert«. Auf der Hangseite der Straße zeugen riesige Fels-
brocken und tiefe Krater im Straßenbelag von Steinschlägen. Jeder Lkw kündigt sich vor
einer unübersichtlichen Kurve mit einem langgezogenen Hupen an, sodass die Signale
im ganzen Tal widerhallen. Mehrmals beobachte ich, wie voll beladene Trucks nur Zen-
timeter vom Abgrund aneinander vorbeifahren. Es gibt keine Leitplanken, neben dem
Asphalt oder Schotter geht es teilweise Hunderte Meter senkrecht in die Tiefe, das sind
Bilder, die man nur aus Märchen kennt. Je höher wir kommen, desto mehr Gipfel tau-
chen um uns herum auf. Die Luft wird kälter, und hinter dem Pass türmen sich bedroh-
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