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PAUL
Auch wenn ich mich wieder bombenfit fühle und es nicht erwarten kann, endlich den
ganzen Tag auf dem Rad zu sitzen, haben wir uns eine Kashgar-Kur verschrieben. Nicht
nur, um uns zu erholen, sondern vor allem, um uns an das neue, fremde Land zu ge-
wöhnen und den nächsten Teil der Tour zu planen. Kashgar bedeutet: Die Hälfte ist ge-
schafft. Die Hälfte bedeutet: Die ganze andere Hälfte wird sich in China abspielen, in
dem Land, in dem wir nichts und niemanden verstehen. Wir haben uns schon vor der
Tour überlegt, in Kashgar Rast zu machen, es gibt dort nämlich das Pamir-Hostel, in
dem viele Rad-Abenteurer einkehren, und wir erhoffen uns ein paar hilfreiche Tipps für
Tibet. Nun, Tipps gibt es, aber alles Dinge, die wir eigentlich nicht hören wollten: Jeder
rät uns davon ab. »Da kommt ihr nicht rein, das könnt ihr im Moment total vergessen«,
ist der allgemeine Tenor. Keine Geheimtipps, keine Ermutigungen, es einfach auszupro-
bieren, nichts von dem, was wir uns erhofft hatten. Wir sind total enttäuscht.
Niedergeschlagen machen wir uns auf den Weg zum Nachtmarkt, um uns unseren
Frust wegzufressen. Ein bizarres Paradies erwartet uns, hier gibt es alles - von Fisch über
Hähnchen und Lamm bis Kalb und Nudeln, alles in uns unbekannter Art zubereitet. Der
Markt hat bis drei Uhr nachts geöffnet, und je später die Stunde, desto mehr ähnelt der
Markt einem riesigen Schlachtfeld mit Knochen, Schädeln und Essensresten, die in riesi-
gen Haufen auf dem Boden liegen. Die Stände sind von spärlich im Rhythmus der Gene-
ratoren glimmenden Glühbirnen erhellt, die an Seilen, Schnüren und Schirmen hängen.
Jeden Morgen verschwindet der Markt; zur Dämmerstunde wird er wiederaufgebaut, je-
des Mal anders, das werden wir an den nächsten Abenden noch miterleben. Um zu es-
sen, setzt man sich auf die Holzbänke direkt vor den Koch, der aus gigantischen damp-
fenden Töpfen Lammköpfe, Zungen, Fischfilets, Hackfleischröllchen oder Maultaschen
zaubert und mit lautem Preisgeschrei versucht, seine fünf Sitzplätze zu bedienen. In
Windeseile schieben sich die Chinesen und Uiguren mit den Stäbchen den Inhalt der
Schalen in den offenen Mund. Es wird geschmatzt, gerülpst, gefurzt, man fühlt sich of-
fensichtlich wohl! Die hygienischen Umstände sind wahrlich nichts für Leute, die sich
schon über ein paar Tauben am Caféhaustisch beschweren, aber wenn man einmal den
Schalter umlegt und sich klarmacht, dass man ganz woanders ist, dort, wo eben alles an-
ders ist, dann kann man ganz gut mitschmatzen. Mit der bloßen Hand werden jetzt die
Nudeln aus dem Topf auf den eben kalt ausgespülten Teller des Vorgängers gelegt. Die
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