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karte vorzeigen und sich unter dem Seil durchducken. Um dann als Stimmberechtigte(r)
stundenlang in der heißen Aprilsonne auszuharren.
Die Ratsmitglieder tragen triste schwarze und graue Roben wie Richter, doch da sie er-
höht auf einem Podium hinter einem Holzgeländer stehen, wirken sie eher wie Ange-
klagte. Was sie im Grunde auch sind, denn hier müssen sie sich ihrer versammelten
Wählerschaft gegenüber verantworten. Aber bevor die Debatte beginnen kann, legen
Ratsmitglieder und Abstimmende erst noch den Eid ab, genau wie die drei Männer auf
dem Rütli. Hunderte Hände - zwei Finger und Daumen gestreckt - schießen in die Höhe,
und alle schwören gemeinsam. Für Gutwillige mag das wie beim Radio Ga Ga-Video von
Queen aussehen, ich jedoch muss bei all den erhobenen Armen an einen Naziaufmarsch
denken. Aber verpetzen Sie mich bitte nicht bei den Appenzellern.
Sobald die Versammlung eröffnet ist, darf jeder Stimmberechtigte aufstehen und zu je-
dem Tagesordnungspunkt sprechen. Bevor nicht auch noch der Letzte, der sich gemeldet
hat, zu Wort gekommen ist, wird nicht abgestimmt. Ja, das kann sich hinziehen, dennoch
gibt es keine Zwischenrufe, und es geht auch sonst sehr diszipliniert zu. Bei den Redebei-
trägen ist es still, niemand klatscht oder johlt beifällig, man hört nicht einmal unzufriede-
nes Raunen. Die Beteiligung der Wählerschaft beschränkt sich offenbar aufs Zuhören
und Abstimmen. Fast ist es ein bisschen dröge. Jede Debatte endet mit dem Handaufhe-
ben für Ja oder Nein, dann wird ohne genaues Durchzählen das Ergebnis bekannt gege-
ben, und die Versammlung geht bedächtig weiter. Die einzige Aufregung in den ersten
Stunden entsteht, als ein Wahlberechtigter in der Hitze ohnmächtig wird und aus dem
Ring getragen werden muss. Nicht, dass es viel Aufsehen erregen würde, denn gerade
wird das große Thema des Tages aufgerufen: Nacktwandern.
Die Landsgemeinde zieht immer eine Menge Schaulustiger an, und auch das örtliche
Fernsehen ist da. Heute aber gibt es noch mehr Zuschauer als sonst sowie internationale
Berichterstattung, alles dank den Nacktwanderern. Offenbar ist ihre Zahl in Appenzell
Innerrhoden sprunghaft angestiegen, und so wird - zum Entzücken der Reporter von nah
und fern - der Antrag gestellt, dieses Freizeitvergnügen zu verbieten. Die Debatte ist
kurz, und der Antrag wird mit überwältigender Mehrheit angenommen. Das heißt, dass
man in Zukunft eine Strafe von 200 Franken zahlen muss, wenn man beim Nacktwan-
dern erwischt wird. Was mich erstaunt ist weniger das Ergebnis als vielmehr, dass es ein
paar tapfere Streiter gibt, die dagegenstimmen. Augenblicklich kennen all ihre Nachbarn
und Freunde die ungeschminkte Wahrheit: Entweder die Renitenten laufen selbst gern
hüllenlos durch die Gegend, oder aber sie sind verweichlichte Liberale, die jeden nach
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