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seiner Fasson selig werden lassen wollen. Und genau das ist für mich das Problem dieser
ganzen Veranstaltung.
Einerseits ist es eine Demonstration von Demokratie in ihrer reinsten Form. Jeder hat
die Möglichkeit, sich einzubringen und seine Meinung zu sagen, und die Gewählten sind
gezwungen, ihren Wählern direkt Rede und Antwort zu stehen. Aber es kann eben auch
Gruppendruck in einem Maße entstehen, dass die Demokratie davon erstickt wird. Stel-
len Sie sich vor, jeder in Ihrem Wohnort wüsste genau, was Sie denken und wie Sie ab-
stimmen - und in der Schweiz heißt das nicht einfach nur, welche Partei Sie wählen.
Denn dank solchen direkten Abstimmungen erfährt jeder, wie Sie über alle möglichen
anderen Fragen denken, vom Passivrauchen angefangen über die Einkommenssteuer bis
hin zur Ausländerpolitik und dem Mindestalter für Volljährigkeit. Gegenüber einer Mehr-
heit buchstäblich für seine Überzeugungen einzustehen kann für manchen zu viel ver-
langt sein. Funktioniert eine moderne Demokratie wirklich besser ohne geheime Abstim-
mungen in Wahlkabinen? Ich habe da meine Zweifel.
Nach der Abstimmung über die Nackten wandern viele Stimmberechtigte ab, obwohl
die Debatte weitergeht. Gregor und ich ziehen uns in den Schatten zurück, weil wir drin-
gend etwas essen müssen, und landen am Tisch eines älteren Ehepaars. Wie sich heraus-
stellt, kommen sie aus Appenzell Ausserrhoden und fahren, seit es in Ausserrhoden keine
Landsgemeinde mehr gibt, jedes Jahr hierher. Sie vermissen sie eindeutig. Im Gegensatz
zu typischen Schweizern sind die beiden recht redselig und verraten uns bereitwillig,
dass die Männer mit den schicken Uniformen und den glänzenden Helmen Ausserrho-
dener Feuerwehrleute sind, die man mit dem Wachdienst betraut hat. Und dass man bei
Regen einen Schirm aufspannen darf, ihn aber bei den Abstimmungen herunternehmen
muss, damit die erhobenen Hände zu sehen sind. Am aufschlussreichsten ist die Informa-
tion, dass es bei der Landsgemeinde nicht nur ums Debattieren und Abstimmen geht, so
wichtig das sein mag, sondern um das Zusammengehörigkeitsgefühl. Tausende Wahlbe-
rechtigte aus dem ganzen Kanton, nicht nur aus seiner Hauptstadt, kommen an einem
Tag hier auf den Platz, treffen sich mit alten Freunden, diskutieren brennende Fragen, ge-
hen in die Kirche, essen eine Wurst und entscheiden mit. Was an Anonymität fehlt, wird
durch das Gemeinschaftserlebnis wettgemacht.
Bis wir mit dem Essen und Plaudern fertig sind, ist die Landsgemeinde vorbei, und die
Stimmberechtigten verlassen den Platz. Die meisten tragen ihren Sonntagsstaat, was bei
den Männern meist dunkler Anzug heißt, sodass eine Stimmung wie bei einer Beerdi-
gung aufkommt. Noch bizarrer ist, dass viele Männer einen Degen tragen. Bis 1991 war
dieses sogenannte Seitengewehr der alleinige Nachweis für die Wahlberechtigung (und
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