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Direkte Demokratie in Aktion
Der abschüssige Hauptplatz ist überfüllt. Frühaufsteher haben sich einen Sitzplatz in den
vorderen Reihen gesichert, dahinter stehen die Menschen dicht gedrängt. Beherztere Zeit-
genossen balancieren gefährlich auf Fahrradständern oder steinernen Brunneneinfassun-
gen, Glückliche sitzen bequem an Fenstern mit Sicht auf den Platz. Geschäfte und Restau-
rants gehen in dem Menschenmeer fast unter, und all diese vielen Leute sind nur aus ei-
nem einzigen Grund nach Appenzell gekommen: Wie jedes Jahr am letzten Aprilsonntag
tagt die Landsgemeinde, das Kommunalparlament des Kantons (nur wenn Ostern auf die-
ses Datum fällt, wird sie um eine Woche verschoben).
Appenzell ist einer der letzten beiden Kantone (Glarus ist der andere), wo nach wie vor
eine Volksversammlung unter freiem Himmel die regionalen Angelegenheiten entscheidet,
über Referenden abstimmt und die Kantonsregierung wählt. Jeder wahlberechtigte Bürger
kann teilnehmen und stimmt ab, indem er die Hand hebt. Und obwohl der Schwester-
Halbkanton Ausserrhoden seine Landsgemeinde Ende der 1990er-Jahre abgeschafft hat,
macht Innerrhoden keine Anstalten, diesem Beispiel zu folgen. Dinge ändern sich hier nur
langsam. Schließlich war es auch der letzte Schweizer Kanton, der den Frauen (widerwil-
lig) das Stimmrecht bei Kantonsangelegenheiten einräumte. Und zwar 1991. Nein, das ist
kein Tippfehler. 1991, als Präsident Bush senior den ersten Golfkrieg vom Zaun brach, als
sowohl der Sowjetunion als auch Dallas das letzte Stündlein schlug und Bryan Adams zur
ewigen Nummer 1 aufstieg.
Auf Bundesebene durften die Schweizer Frauen bereits seit 1971 abstimmen (auch das
erschreckend spät), doch es dauerte weitere zwanzig Jahre, bis die Männer von Appenzell
Innerrhoden ihre Vormachtstellung bei Kantonsentscheidungen aufgaben. Und auch das
erst, als ein Urteilsspruch des höchsten Bundesgerichts sie dazu zwang.
Heute drängen sich eine Menge Frauen auf dem kleinen Platz, um ihr hart errungenes
demokratisches Recht auszuüben. Nachdem der Gottesdienst vorbei ist, ertönt Schlag 12.00
Uhr Trommelwirbel, Fahnen werden geschwungen, die Blaskapelle spielt, und Würdenträ-
ger prozessieren von der Kirche die Hauptgasse hinunter zum Platz und auf die Bühne.
Die vielen Schaulustigen müssen dahinter oder an den Seiten des Platzes stehen; ein mit
Absperrseilen gesicherter und von Männern mit schicken schwarzen Uniformen und gold-
glänzenden Helmen bewachter breiter Korridor trennt sie vom auserwählten Kreis der
Wahlberechtigten. Wer in den inneren Ring eintreten will, muss seine (oder ihre) Stimm-
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