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Von den anrüchigen Bars ist es aber nur ein kurzer Spaziergang den Hügel hinunter
zur Postkartenansicht von Genf: ein Seeufer, gesäumt von Palasthotels, modernen Banken
und Leuchtreklamen. Vor dem Hintergrund der französischen Alpen ziehen Segelboote
auf dem Wasser ihre Bahn, und das Wahrzeichen der Stadt schießt 140 Meter in die Hö-
he. Der Jet d'Eau ist einer der größten Brunnen der Welt, doch abgesehen davon, dass er
ganz nett aussieht, vor allem wenn er nachts angestrahlt wird, erfüllt er keinen Zweck.
Aber wenigstens liefert er den Touristen ein Fotomotiv.
Für viele Deutschschweizer ist Genf die Stadt, die sie am wenigsten mögen. Das liegt
nicht daran, dass sie so untypisch für eine Schweizer Stadt (fast rumdum von Frankreich
umzingelt) oder ähnlich selbstgefällig wie Zürich ist, sondern an der Sprache. Wie beina-
he überall in der französischsprachigen Schweiz weigert sich auch in Genf praktisch je-
der Einwohner, Deutsch zu sprechen. Sicher, die Genfer lernen es in der Schule. Aber wie
das mit Schulwissen eben so ist: Kaum ist man draußen im richtigen Leben, fällt einem
keine einzige Vokabel mehr ein. Auf der Straße und in den Geschäften hört man eher
Englisch.
Oder liegt es gar nicht am Zungenschlag, sondern daran, dass hier alles so trist wirkt?
Ist es hier sogar den Schweizern zu ernst, fehlt ihnen , in welcher Sprache auch immer, die
joie de vivre ? Die protestantische Arbeitsmoral scheint in die Gebäude eingesickert zu
sein und hat auch bei den Menschen und in den Straßen ihre Spuren hinterlassen. Klar,
in den Geschäftsauslagen glitzert eine Menge teurer Tand, aber die Augen der Menschen
strahlen nicht. Vielleicht sind ja alle damit beschäftigt zu überschlagen, wie lange sie ar-
beiten müssen, um ihre Miete zu bezahlen - Genf hat die höchsten Mietpreise der
Schweiz. Das ist der Hauptgrund, warum die Stadt laut einer Erhebung von 2011 bei den
Lebenshaltungskosten weltweit den fünften Platz belegt.
Das Herz von Genf ist aber nicht die Uferpromenade, auch nicht das Geschäftsviertel,
sondern die hügelige Altstadt, die aussieht wie eine Filmszenerie aus Die drei Musketiere ,
nur ohne wehende Umhänge und breitkrempige Hüte. Fast wie in Zürich hat man den
Eindruck, hier sei die Zeit seit Jahrhunderten stehen geblieben, allerdings vermisst man
schmerzlich dessen Lebendigkeit. Selbst an einem sonnigen Werktag liegen die engen,
schattigen Gassen zwischen den hohen Steinhäusern fast verlassen da, einschüchternd
elegante Antiquitätenläden und geschlossene Fensterläden sieht man weit häufiger als
Cafés. Das ist eine Stadt, die selbst nach Calvins Tod nicht gelernt hat, Spaß zu haben.
Ein Blick auf seinen harten Holzstuhl in der kahlen Kathedrale reicht, und man weiß,
was er von Bequemlichkeit und Schönheit gehalten hat. Da tut einem allein vom An-
schauen der Hintern weh.
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