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Das protestantische Rom
Zwar begann die Schweizer Reformation in Zürich, ihre Blüte aber erlebte sie in Genf.
Beim Klang dieses Namens denkt man heute zuerst an Friedensgespräche, internationale
Konferenzen, Privatbanken oder den See. Vor vier Jahrhunderten hingegen kamen einem
dabei ganz andere Dinge in den Sinn - bis auf den See, der war auch damals schon da. In
jenen Tagen war Genf für einen Protestanten das gelobte Land, vor allem wenn er gerade
vor der spanischen Inquisition oder einem anderen katholischen Rollkommando geflohen
war. Genf war damals eine Stadtrepublik, zwar mit der Schweiz verbündet, aber kein Teil
von ihr, und das protestantische Gegenstück zu Rom. Was es größtenteils dem Franzosen
Jean Calvin verdankte. Er machte im August 1536 dort halt, um zu übernachten, und da-
nach war die Stadt nicht mehr dieselbe. Unter seiner Herrschaft wurde Genf zum Iran der
damaligen Zeit: eine Theokratie, in der die Gotteskrieger alles fest in der Hand hatten.
Von den Genfer Bürgern wurde erwartet, dass sie von der Wiege bis zur Bahre arbeite-
ten und dabei jeglichem Vergnügen entsagten. Alles, was auch nur ansatzweise Spaß
machte, war verboten: Tanzen, Glücksspiel, Lärmen, Theater, Trinken, luxuriöse Kleidung.
Gott hielt über alles Wacht, und zwar ein puritanischer Gott. Seinem Willen wurde mit
Dekreten, Ausgangssperren, Gefängnis und öffentlichen Hinrichtungen Geltung ver-
schafft. Allerdings war nicht alles verboten. Harte Arbeit ging in Ordnung, dasselbe galt
für Gebete und, man höre und staune, für Zinsen auf Darlehen. Kaum war das uralte reli-
giöse Wucherverbot passé, war hoppla-di-hopp! das Schweizer Bankwesen geboren. Aus
diesem Grund sehen viele im Calvinismus den Ursprung des modernen Kapitalismus, aber
auch all die viele harte Arbeit hat wohl ihr Scherflein dazu beigetragen.
Wenn man mit dem Zug in Genf eintrifft, bekommt man nicht den allerbesten Eindruck
von der zweitgrößten Stadt der Schweiz. Fast überall auf der Welt ist die Bahnhofsgegend
das am wenigsten attraktive Stadtviertel, und Genf macht da keine Ausnahme. Zugegeben,
es ist nicht so schlimm wie um King's Cross in London oder das Frankfurter Bahnhofs-
viertel, aber für Schweizer Verhältnisse ist es definitiv heruntergekommen, die Fassaden
bröckeln wie morgens das Make-up der gewerblichen Schönen der Nacht. Wobei sich de-
ren Tun nicht auf die Zeit der Dunkelheit beschränkt, denn Prostitution zählt in der
Schweiz zu den wenigen rund um die Uhr erhältlichen Dienstleistungen. Und in einer
Stadt wie Genf mit so vielen Diplomaten und Konferenzen gibt es fraglos großen Bedarf
sowie die Kapazitäten, ihn zu decken.
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