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Ein sauberes und angenehmes Land?
In einer Frage sind sich die Schweizer Katholiken mit den Protestanten einig, nämlich dass
gleich nach der Frömmigkeit die Reinlichkeit kommt. Es gibt wenige andere Länder, die so
sauber sind wie die Schweiz. Manchmal hat man das Gefühl, als würde allnächtlich eine
ganze Armee von Heinzelmännchen dafür sorgen, dass alles von der Bordsteinkante bis zu
den Parkbänken makellos rein ist. Wie es mein Vater einmal ausdrückte: Man könnte vom
Boden eines Parkhochhauses essen, der so sauber ist, dass die Reifen quietschen. Müll ist
fast nirgends ein Problem. Selbst nach tagelangen Festivitäten wie Karneval oder Fastnacht
werden der knöchelhohe Unrat unverzüglich beseitigt und die überquellenden Abfalleimer
entleert.
Wenn man sich allerdings einen Augenblick Zeit nimmt, um hinter die makellose Ober-
fläche zu schauen, stellt man fest, dass es auch in der Schweiz Verunreinigungen gibt: Zi-
garettenkippen, Kaugummi und Graffiti. Und zwar überall.
Die meisten Schweizer Raucher betrachten ihre Zigarettenkippen ganz offensichtlich
nicht als Abfall. Sie schnippen sie so hemmungslos auf den Boden, dass der Umkreis einer
Bushaltestelle aussehen kann, als hätte hier ein Zigarettenmassaker stattgefunden, so viele
kleine hellbraune Leichname bedecken den Boden. Es ist durchaus möglich, einen Raucher
zu beobachten, der seinen Müll sorgfältig in einen Abfalleimer entsorgt, einen letzten Zug
nimmt und das noch glimmende Ende aufs Pflaster schnippt.
Manche Gemeinden wie Bern haben versucht, dieser Unsitte Herr zu werden, indem sie
dafür Strafen von 100 Franken verhängt haben. Doch seitdem das Rauchen in geschlosse-
nen Räumen verboten ist, türmen sich die Kippen draußen zu sogar noch höheren Bergen.
Dann das Kaugummi. Die Schweizer lieben Kaugummi. Pro Kopf konsumieren sie - da
klappt einem die Kinnlade herunter und erst mal nicht wieder hoch - 700 Gramm im Jahr,
genauso viel wie die US -amerikanischen Meisterkauer. Ob jung, ob alt, ob Mann, ob Frau
macht kaum einen Unterschied - und ich glaube, ich weiß auch, warum. Mit dieser lang-
samen wiederkäuenden Bewegung folgen sie ihrem unbewussten Bedürfnis, es den Kühen
auf ihren Wiesen gleichzutun. Nur ein weiterer Beleg dafür, dass im Innern eines jeden
Schweizers eine ländliche Seele schlummert und auf Ausbruch sinnt. Tja, es hat wohl sei-
nen tieferen Sinn, dass das englische Wort für Kuh - cow - von der Aussprache her an das
deutsche »Kauen« erinnert. Dieses uramerikanische Produkt könnte damit als »Kuh«-
Gummi gelten. Und es wäre gar nicht so schlimm, in einem Land voller Kuhimitatoren zu
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