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leben, wenn nicht die Hälfte davon das Kauprodukt auf den Boden spucken würde. Eine
Menge Schweizer, vor allem junge männlichen Geschlechts, spucken oft aus, und beson-
ders gern mit Kaugummi. Schweizer Gehwege sehen daher aus, als hätten sie eine beson-
ders aggressive Form von Masern, so übersät sind sie mit Hunderten von Pusteln. Das ist
zwar auch in vielen anderen Ländern ein Problem, aber doch keines, womit man in der
Schweiz rechnen würde.
Dasselbe gilt für Graffiti. Jeden Morgen, wenn ich die Fensterläden von meinem
Schlafzimmer öffne, sehe ich als Erstes in großen schwarzen Buchstaben auf der Haus-
wand gegenüber: FUCK NAZIS . Auch wenn ich der Aussage, allerdings nicht wortwört-
lich, zustimme, ist es keine schöne Aussicht, die sich mir jeden Morgen in dieser ganz
normalen Straße bietet. Doch wie Hunde markieren die Sprayer hier alles. Und wie über-
all sind ihre bevorzugten Ziele Eisenbahnen, Straßenschilder und Werbetafeln. Manche
farblich und künstlerisch gelungenen Werke werten eine langweilige Brücke auf, doch
leider gibt es auch Graffiti auf normalen Häusern, historischen Gebäuden und Fenstern.
Am meisten überrascht dabei, dass dieser Akt der Rebellion von der Schweizer Gesell-
schaft insgesamt toleriert, ja sogar akzeptiert wird. Niemand scheint sich darüber aufzu-
regen. Oder sich auch nur darum zu scheren, selbst an Orten, die weit bedeutsamer sind
als ein altes Kaufhaus oder eine Autobahnüberführung.
Neuchâtel ist angeblich der Ort in der Schweiz, wo das beste Französisch gesprochen
wird, und die Altstadt zählt zu den hübschesten des Landes. An einen See gedrängt, ist
sie ein hinreißendes Potpourri aus steilen Gassen, kopfsteingepflasterten Plätzen und Ge-
bäuden aus goldfarbenem Sandstein, von denen Alexandre Dumas einst sagte, sie seien
aus Butter geschnitzt. Das bezaubernde Ensemble wird gekrönt von einem Schloss mit
Türmchen, dem die Stadt ihren Namen verdankt, und einer Kirche wie aus einem Mär-
chen. Also ein kleines Stück französischer Himmel, der in die Schweiz verfrachtet wurde.
Doch wie um zu beweisen, dass man tatsächlich in der Schweiz ist, ist der Weg vom
Bahnhof in die Stadt von so massenhaft vielen Graffiti gesäumt, wie man es selten sieht.
Die schönen mittelalterlichen Mauern von modernen Schmierereien entstellt zu sehen ist
ein trauriger Anblick, aber die Einheimischen gehen vorbei, als wäre nichts.
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