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Eine demokratische Kirche
Das eigentlich Bemerkenswerte an Einsiedeln ist nicht seine pompöse Ausstattung oder
die Viertelmillion Pilger alljährlich, sondern dass es sich um eine autonome Einheit inner-
halb der katholischen Kirche handelt. Das Kloster gehört zu keiner Schweizer Diözese, es
ist direkt Seiner Heiligkeit in Rom unterstellt. Ein Relikt längst vergangener Tage, es gibt
weltweit kaum ein Dutzend Beispiele hierfür. Doch Schweizer Katholiken finden das viel-
leicht gar nicht merkwürdig, ihr katholischer Zweig folgt sowieso seinen eigenen Regeln.
So gibt es in der Schweiz keine Erzdiözesen, was heißt, dass die sechs Diözesen genau wie
Einsiedeln direkt dem Papst unterstehen. Und nicht nur das, die Schweizer Bischöfe wer-
den eher in Absprache mit dem Volk als auf Befehl Roms ernannt. Die katholische Kirche
ist von säkularen demokratischen Strukturen beeinflusst? Auch das ist wieder einmal ty-
pisch Schweiz.
Aber nicht nur die Katholiken machen in der Schweiz ihr eigenes Ding, auch die Refor-
mierten agieren eigenständig. Es gibt in der Schweiz keine Gesamtkörperschaft der protes-
tantischen Kirche wie etwa bei der anglikanischen Glaubensgemeinschaft in England. Der
Schweizerische Evangelische Kirchenbund ist ein Zusammenschluss voneinander unab-
hängiger Kantonalkirchen, von denen manche im Grunde Staatskirchen sind, andere wie-
der nicht. Manche sind liberal, andere streng gläubig; manche sind französisch-, die meis-
ten aber deutschsprachig. Fast ein Spiegelbild der Schweiz, alles sehr egalitär und ohne do-
minante Autorität.
Die Tatsache, dass sowohl Katholiken als auch Protestanten ihre Angelegenheiten hier
demokratischer regeln, ist vielleicht der Hauptgrund dafür, dass die Religion in der
Schweiz keine Streitfrage ist wie in anderen Ländern dieser Welt. Wenn man beispielswei-
se wie ich mit dem Nordirlandkonflikt groß geworden ist, staunt man darüber, dass es die
Trennung zwischen Katholiken und Protestanten in der Schweiz zwar noch gibt, sie aber
keine Rolle mehr spielt. Was nicht immer so war. Auch in der Schweiz dauerte es eine
ganze Weile, und es wurde viel Blut vergossen, ehe religiöse Dogmen nationalen Interes-
sen untergeordnet wurden. Begonnen haben die Scherereien mit einem einzigen Mann.
Nein, nicht mit dem von vor 2000 Jahren, sondern mit einem Schweizer. Vor nicht ganz so
langer Zeit.
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