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Der dritte Mann
Trotz seines Namens ist das Grossmünster in Zürich weder die größte noch die prächtigste
Kathedrale der Schweiz. Dennoch kann man es als Mutterkirche der Schweizer Protestan-
ten betrachten, denn hier erblickte die Schweizer Reformation 1519 das Licht der Welt.
Und der Vater - Ulrich oder, wie er sich später nannte, Huldrych Zwingli - war bei der
Geburt persönlich anwesend.
Zwingli ist der vergessene dritte Mann der Reformation, Martin Luther und Jean Calvin
haben den ganzen Ruhm eingeheimst. Überall auf der Welt findet man lutherische oder
calvinistische Kirchen, aber auf zwingliische stößt man kaum. Und statt als einer der Mär-
tyrer des Protestantismus oder wenigstens als großer Schweizer verehrt zu werden, ist er
eine Fußnote der Geschichte. Selbst in seiner Wahlheimat Zürich ist sein Denkmal nur
schwer zu finden, es steht zwischen Bäumen versteckt am Flussufer. Dies mag aber mit
dem schweizerischen Widerstreben gegen die Glorifizierung von Toten zu tun haben und
mit ihrem Widerwillen gegen die Errichtung von Standbildern zu ihren Ehren. Im Gegen-
satz zu ihren europäischen Pendants, wo an allen Ecken und Enden Ebenbilder verbliche-
ner Helden aus Stein und Metall herumstehen, sind Schweizer Städte relativ denkmalfrei.
Dazu hat zweifellos auch beigetragen, dass es hier weder Monarchen noch Kaiser, noch
berühmte Generäle oder Präsidenten gab, die man bis in alle Ewigkeit ehren wollte. Aber
es ist eben auch ein typisches Beispiel für Schweizer Bescheidenheit und Zurückhaltung.
In der Ostschweiz nahe Appenzell geboren, verließ Zwingli schon bald die ländliche
heimische Einöde und machte sich auf in die große, weite Welt. Er studierte in Basel und
Wien, vervollkommnete seine Latein- und Griechischkenntnisse und trat in einen Gedan-
kenaustausch mit dem großen Humanisten Erasmus von Rotterdam. Sein selbst auferlegtes
Einsiedlertum im Kloster von Einsiedeln endete, als er zum Leutpriester am Zürcher
Grossmünster berufen wurde. Am 1. Januar 1519, seinem 35. Geburtstag, verstieß er in sei-
ner ersten Predigt gegen alle Regeln, indem er das Evangelium nach Matthäus klar und
verständlich auslegte. Noch gewagter war seine Teilnahme an einem Wurstessen an einem
Fastensonntag, wobei weniger der Fleischgenuss als vielmehr der Zeitpunkt Anstoß erreg-
te. Heutzutage würde man sich übrigens schwertun, einen nicht vegetarischen Schweizer
aufzutreiben, der sich gegen den Verzehr von Wurst - eine nationale Obsession! - aus-
spricht. Außerdem stellte sich Zwingli gegen den Zölibat, nicht ganz uneigennützig, denn
er hatte heimlich geheiratet, und stritt mit Luther über die genaue Bedeutung der Eucha-
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