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Ein Neuanfang
Der Weg am Südufer des Urner Sees ist eher für Spaziergänger als für Wanderer gedacht,
nicht zuletzt weil ein Großteil asphaltiert ist. Aber mir scheint er ebenso interessant wie
jeder felsige Gebirgspfad, denn er ist der noch verbliebene Teil der Axenstrasse, die 1865 in
den Fels gesprengt wurde. In den engen, verlassenen Tunneln und Steinschlaggalerien
wird es einem leicht unheimlich - wie in einem dieser Filme, wo der Held allein in einer
menschenleeren Welt aufwacht. Die moderne Straße ist halb in den Hang eingegraben,
aber leider nicht ganz, sodass ich ihr streckenweise folgen muss.
Da freut man sich, wieder einen Waldweg einzuschlagen - vielleicht haben die Wande-
rer ja nicht ganz unrecht -, denn der nächste Abschnitt führt zur Tellskapelle an der Tells-
platte, wo unser Held angeblich von Gesslers Boot aus an Land gesprungen ist. Am Fuß ei-
ner langen Treppe zum Ufer hinunter bietet sich ein bemerkenswertes Bild: das größte
Glockenspiel der Schweiz mit insgesamt 37 Glocken. In den ersten zehn Minuten jeder
Stunde spielt es ein Potpourri aus zwanzig Melodien, darunter natürlich die Wilhelm-Tell-
Ouvertüre und, ein wenig befremdlich, »Auld Lang Syne«. Der Glockenturm aus Metall
wurde von der Schweizer Schokoladenindustrie gestiftet, obwohl der Bezug sich ebenso
wenig erschließt wie der Grund, warum er hier draußen mitten in der Walachei steht.
Aber auf dem Weg hinunter zur Kapelle und zur Bootsanlegestelle summe ich Rossini.
So erreiche ich ohne größere Anstrengung das Ende des Weges und überspringe wieder-
um einen längeren Zeitabschnitt. Der Wiener Kongress im Jahr 1815 legte die Grenzen der
Schweiz fest und garantierte ihr die Neutralität, ohne dass sich auf der Schweizer Land-
karte größere Änderungen ergaben. Der Bestand an Kantonen blieb unverändert, was be-
deutet, dass der Weg der Schweiz das restliche 19. Jahrhundert und den Großteil des 20.
nicht ordentlich repräsentiert. Aber auch ohne Gebietsgewinne oder -verluste veränderte
sich das Land durchaus, und zwar vornehmlich 1848, als es komplett generalüberholt wur-
de. In jenem Jahr wurde ganz Europa von Revolutionen erschüttert, so erstaunt es nicht,
dass es auch bei den Eidgenossen brodelte. Der entscheidende Unterschied ist, dass die po-
litische Revolution in der Schweiz ganz ohne Schlachten und Blutvergießen auskam. Das
hatte es bereits im Vorjahr gegeben, als die Schweiz ihren letzten bewaffneten Konflikt
austrug, einen Minikrieg, der keinen Monat dauerte. Dies war auch die letzte Runde der
Religionsstreitigkeiten, die das Land seit der Reformation spalteten, aber die Versöhnung
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