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chen übersetzt ist, aber keine Fassung in Schwyzerdütsch vorliegt. Als ich in die Glasvi-
trinen spähe, mache ich eine verblüffende Entdeckung. Die erste Ausgabe von Heidi , Hei-
dis Lehr- und Wanderjahre , ist in Deutschland und nicht etwa in der Schweiz erschienen
und erzählt nur die halbe Geschichte. Das Buch war aber so erfolgreich, dass im Jahr dar-
auf eine Fortsetzung veröffentlicht wurde: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat . Was
wir heute als Heidi kennen, sind beide Geschichten zusammen. Und noch aufschlussrei-
cher: Das erste Buch ist anonym erschienen. Vielleicht musste sie ja, wie ihre Zeitgenos-
sin George Eliot, ihr Geschlecht verschweigen, um Erfolg zu haben. Selbst heutzutage
wird das ja noch praktiziert: Joanne Rowling wurde zu J. K. Rowling, damit ihr Buch
auch Jungen ansprach. Oder hat Johanna Zuflucht in der Anonymität gesucht? Egal was
der Grund war, die Scharade wurde beim zweiten Buch jedenfalls nicht fortgesetzt: Auf
dem Umschlag steht Johanna Spyri.
In den Schaukästen sind alle möglichen Denkwürdigkeiten ausgestellt: Bücher in den
verschiedensten Sprachen, Videos, Schallplatten, Kleidungsstücke und jede Menge Le-
bensmittelverpackungen. Offenbar haben im Lauf der Jahre nicht nur McDonald's und
Migros unsere junge Heldin zum eigenen Nutzen eingesetzt; sie wurde für die Vermark-
tung von Tee, Wein, Salat, Wurst und natürlich allen möglichen Molkereiprodukte miss-
braucht. Vielleicht hätten sich weniger Firmen um sie gerissen, hätte sie ihren ursprüngli-
chen Namen behalten und ihn nicht zu Heidi abgekürzt: irgendwie fehlt Adelheid der
romantisch-niedliche Touch und klingt auch viel zu deutsch. Davon einmal abgesehen,
frage ich mich, was Johanna wohl dazu sagen würde, dass sich ihr kleines Mädchen im
Namen des Profits weltweit prostituieren muss.
Nach dem Museumsbesuch schlendern wir durch das Dorf, das sich entlang der Straße
den Berg hinunterzieht und nie irgendwelche Preise einheimsen wird. Nicht jedes
Schweizer Dorf ist eine Postkartenidylle. Manche sind, wie dieses, einfach stinknormal.
Die typische schlichte protestantische Kirche und ihr modernes katholisches Gegenstück
fast daneben, das eine Hotel, eine Post, ein Metzger, ein Bäcker (keinen Kerzenzieher)
und zwei der bereits erwähnten Restaurants. Die übrigen fünf müssen sich in den Gassen
dahinter verstecken. Unten an der Hauptstraße prangt eins dieser allgegenwärtigen
»Wanderweg«-Schilder, doch der Hinweis, dass man viereinhalb Stunden bis Zürich
braucht, stimmt uns, so verlockend er sein mag, nicht um. Als der Bus pünktlich auf die
Minute erscheint, steigen wir ein.
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