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kaum noch Auto. Wenn ich mich doch nur an den Prozentsatz der über 65-Jährigen in
Hirzel erinnern könnte!
Obwohl wir einen Höhenunterschied von 311 Metern überwinden, ist es keine spekta-
kuläre, aber sehr angenehme Fahrt durch eine Schweizer Hügellandschaft, wo braune
Kühe die grünen Wiesen tüpfeln und hin und wieder ein altes Bauernhaus zwischen den
vielen neuen steht. Wir durchqueren so winzige Weiler, dass wir kaum die Ortsschilder
gelesen haben, bevor wir sie schon wieder verlassen. Ab und zu bietet sich der Blick auf
einschüchternde Berge. Hier ist kein flaches Stück Land größer als der Hyde Park. Als
wir in Hirzel aus dem Bus steigen, lese ich auf einem Schild, dass unser heutiger Fahrer
W. Christen war und uns »Gute Fahrt« wünscht. Höflich wie die Schweizer nun mal
sind, allerdings auf Hochdeutsch.
Das Spyri-Museum befindet sich in einem alten Schulhaus wie aus Grimms Märchen:
im Obergeschoss Fachwerk mit blutroten Balken und darauf ein typisches A-förmiges
Dach. In dem winzigen Garten steht ein steinernes Standbild von Heidi, Peter und der
unverzichtbaren Ziege. Es ist definitiv der richtige Ort und die richtige Zeit: Die Uhr
zeigt 14.03 Uhr, und die Tür steht bereits offen. Ja, wir sind nicht einmal die Ersten, vier
Besucher waren vor uns da. Wahrscheinlich allesamt Schweizer.
An den unverputzten Steinwänden im Erdgeschoss hängen Schwarz-Weiß-Fotos von
Johanna und ihrer Familie; alle blicken so ernst drein, wie es sich für das 19. Jahrhundert
gehört. Keinem wollte man gern in finsterer Nacht begegnen oder gar eine Gutenachtge-
schichte von ihm hören. Johanna Louise Heusser war das vierte von sechs Kindern, ihr
Vater war der Dorfarzt, ihre Mutter die Pfarrerstochter. Bis sie mit 25 Jahren Johann Spy-
ri kennenlernte, kam sie praktisch nicht aus ihrem Dorf heraus. Es muss ein bisschen ver-
wirrend gewesen sein: ein Johann und eine Johanna, deren Vater ebenfalls Johann hieß.
Aber das hielt sie nicht davon ab, den Zürcher Anwalt zu heiraten und in die große Stadt
zu ziehen. Allerdings gewöhnte sie sich nie wirklich ans Stadtleben und litt an Depressio-
nen, vor allem nach der Geburt ihres Sohnes. Trost fand sie im Schreiben und bei Ur-
laubsfahrten ins ländliche Maienfeld. Ihren größten Erfolg feierte sie 1880 mit Heidi , doch
nur wenige Jahre später starben ihr Sohn und ihr Mann. Sie war nicht gerade eine lustige
Witwe, gab aber Zeit und Geld für wohltätige Zwecke und schrieb weiter, bis sie 1901
starb. Eine ziemlich düstere Biografie - Heidi war wohl der einzige Lichtblick in ihrem
Leben. Bedrückt schleppe ich mich die steile Treppe hinauf.
Das erste, ganz aus Holz gebaute Stockwerk ist ausschließlich Spyris berühmter Heldin
gewidmet, und die freundliche Aufseherin plaudert munter über das kleine Mädchen, in
dem sie eine frühe Feministin sieht. Sie bestätigt, dass Heidi zwar in über fünfzig Spra-
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