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Nord und Süd
Eine typische Schweizer Wetterkarte ist in zwei Hälften unterteilt, Nord und Süd, was sich
aber nicht auf die Nord- und die Südalpen bezieht. Im Schweizer Jargon ist der Norden der
Teil des Landes, wo die Menschen leben, und der Süden der Teil, wo sie alle Urlaub ma-
chen, und das sind die Berge. Sie mögen die Seele des Landes sein, aber das Nervenzen-
trum der modernen Schweiz liegt woanders, nämlich in den Gebirgsausläufern des
Schweizer Mittellands. Bei einem Land mit so viel freier Natur denkt man nicht an Über-
völkerung, aber der bewohnte Teil ist tatsächlich übervölkert, weil alles - Menschen, Häu-
ser, Fabriken, Bauernhöfe, Verkehrsverbindungen - in dem schmalen Landstrich zwischen
den Alpen und dem Schweizer Jura Platz finden muss. Das Mittelland erstreckt sich von
Genf über die Romandie - auch Westschweiz oder Welschland genannt, weil man hier
Französisch spricht -, über Bern und Zürich bis zum Bodensee. Hier liegen die großen
Städte, hier leben zwei Drittel der 7,7 Millionen Schweizer, dieses Gebiet weist mit 450
Menschen pro Quadratkilometer mit die höchste Bevölkerungsdichte Europas auf. Es ist
also fast so dicht besiedelt wie Nordrhein-Westfalen (524 Einwohner pro Quadratkilome-
ter) und dichter als Holland (395 Einwohner pro Quadratkilometer). Seltsamerweise hat
man aber nicht den Eindruck, dass die Landschaft zugebaut ist, vielleicht weil viele Leute
in Wohnungen und nicht in Einfamilienhäusern leben. Allerdings könnte die Tatsache,
dass die meisten Schweizer so eng beisammen wohnen, erklären, warum sie gern ein we-
nig Abstand halten: Wenn Wohnraum knapp ist, erscheint der persönliche Freiraum umso
kostbarer.
Das Mittelland ist ein Vorgebirge, also keineswegs flach. Im Grunde ist es eine Hügel-
landschaft mit Flüssen, Seen und Tälern, die in vielen flacheren Ländern eine Menge na-
türlicher Hindernisse für den Aufbau eines funktionsfähigen Transportwesens bilden wür-
den. In der Schweiz gab es aber sehr viel größere Barrieren in Gestalt der Alpen, die mit
Straßen und Gleisen überwunden wurden, welche den Rest der Welt vor Neid erblassen
lassen. Seit der Öffnung des Gotthardpasses im 13. Jahrhundert wacht die Schweiz über
die transnationalen Hauptrouten Westeuropas. Ein Hochgeschwindigkeitskorridor für Zü-
ge und Kraftfahrzeuge durch das Mittelland führt zu den wichtigen Transalpintunneln. Da
die Schweiz kein EU -Mitglied ist, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass sie wesent-
liche Transportwege der Europäer kontrolliert. Und zwar nur wegen dieser Berge, der
wahren Scheide zwischen Mittel- und Südeuropa.
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