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Verfallsdatum überschritten hat. Es wirkt ein bisschen wie die Die Frauen von Stepford
ins Mittelalter versetzt, doch wenn die gesamte weibliche Bevölkerung in diesem Aufzug
die Kirche betritt, ist das zweifellos ein beeindruckendes Bild.
Fast unheimlich wirkt das Dorf Oberriet, wo in jedem Garten und auf jedem Feld eine
Vogelscheuche Wache steht, als rechneten die Dorfbewohner mit einer Vogelinvasion à la
Hitchcock. Dabei bilden die Vogelscheuchen eine kunterbunte Truppe: Eine trägt ein
Hochzeitskleid, eine andere einen Geschäftsanzug; ein pummeliger Mann steht neben ei-
ner minimalistischen Skulptur nur aus Ästen, behängt mit Stroh; selbst eine Riesenkrähe
wie aus einem Horrorfilm ist mit von der Partie. Es stellt sich heraus, dass die Einwohner
531 Vogelscheuchen gebastelt haben, um damit ins Guinness-Buch der Rekorde zu kom-
men. Vielleicht hat es sie gelangweilt, immer nur die schönste Kuh zur Miss Oberriet zu
wählen und sie bei der Bezirksviehschau um den Titel der Miss Rheintal antreten zu las-
sen - nein, das ist kein Scherz.
Die Strohpuppen von Oberriet verschwinden im Rückspiegel, als wir ins Herz des Ap-
penzellerlandes vorstoßen, ein fruchtbares, welliges Plateau in einer von felsigen Bergen
umgebenen Senke. Trotz der wild zerklüfteten Berge am Horizont verspüre ich ein Gefühl
von Weite, das sich im Emmental nirgends einstellen wollte. Wie überall in der ländli-
chen Schweiz tüpfeln Bauernhöfe in verblüffend regelmäßigen Abständen die Land-
schaft; jeder ist offenbar immer genau eine Jodeldistanz von seinem Nachbarn entfernt.
In der Schweiz hat jede Region ihren eigenen Baustil, worauf die Schweizer ziemlich
stolz sind. Im Vergleich zu den scheunengroßen Höfen im Emmental sind die Appenzel-
ler Bauernhäuser winzig, ja fast zierlich. Die zweistöckigen Gebäude erinnern an Unsere
kleine Farm , die meisten haben Schindelfassaden, manche sind hellblau oder gelb gestri-
chen. Im rechten Winkel an jedes Bauernhaus angebaut ist die Scheune, sodass ein T -för-
miger Grundriss entsteht. Damit ist dafür gesorgt, dass Vieh und Besitzer nachts eng bei-
einander sind.
Nach all den hügeligen Feldern und bäuerlichen Traditionen wirkt Appenzell dann wie
eine pulsierende Metropole, obwohl es ein Städtchen mit nur 6000 Einwohnern ist. Mein
letzter Besuch hier fand während der Landsgemeinde statt (siehe Kapitel vier), als die
Stadt rappelvoll bis zu den bemalten Dachsparren war. Diesmal kann man die Gebäude
ungehindert betrachten. Wenn man die nur für Fußgänger freigegebene Hauptgasse hin-
unterspaziert, fühlt man sich in eine Parallelschweiz versetzt, die nach Disneyland passen
könnte. Die alten Holzhäuser erstrahlen in einem Kaleidoskop aus Farben und sind mit
kunstvollen Schablonenmustern verziert. Über unseren Köpfen hängt ein Schilderreigen,
die geschwungenen goldenen Formen verweisen auf eine Apotheke, ein Hotel oder eine
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