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Uriges für den Romantiker
Falls Sie noch nie vom hügeligen, üppig grünen Appenzellerland gehört haben, geht es Ih-
nen nicht besser als den meisten anderen Ausländern. In der Schweiz selbst ist es aller-
dings berühmt, und das nicht nur wegen des einzigartigen Käses. Diese ländliche Gegend
ist der traditionellste oder, falls Sie einer dieser wenig nachsichtigen Städter sind, ein
ziemlich rückständiger und beschränkter Kanton. Die Appenzeller haben ihre eigene Bau-
kultur, einen unverwechselbaren Dialekt und ebensolche Trachten, was sie oft zur Ziel-
scheibe Schweizer Gespötts macht. Noch immer sieht man Männer mit roten bestickten
Westen, schwarzen Hosen und flachen schwarzen Hüten, dazu einen silbernen Ohrring in
einem Ohr, »als sei die Zeit stehen geblieben«, wie es auf der Internetseite von
Appenzellerland-Tourismus so nett heißt. Hier wird Tradition tatsächlich gelebt, was man
nirgends besser sieht als an Festtagen wie dem Muttertag, der zwar kein gesetzlicher Feier-
tag ist, aber trotzdem begangen werden muss.
Wie in Deutschland ist Muttertag immer am zweiten Sonntag im Mai und eine Riesen-
sache - im Unterschied zu England, wo er, an Ostern gekoppelt, wie ein verirrtes Lamm
durch den März wandert. Die Züge sind rappelvoll mit pflichtbewusstem Nachwuchs, der,
mit mächtigen Blumensträußen, Topfpflanzen, knallbunten Päckchen oder makellos wei-
ßen Tortenschachteln bepackt, zu Muttern nach Hause fährt. Merkwürdigerweise gibt es
aber keine Gratulationskarten zum Muttertag, was schlicht daran liegt, dass die Schweizer
keine großen Kartenschreiber sind. Geburtstags-, Beileids-, Genesungswünsche, Gratula-
tionen und sogar Weihnachtskarten findet man hier nur selten. Laut einem Artikel in Der
Bund vom 21. 11. 2009 schreibt der Schweizer durchschnittlich acht Karten im Jahr, wäh-
rend in den USA - ein wahres El Dorado für Grußkartenfirmen - 45 pro Person die Regel
sind. In der Schweiz lässt man offenbar, zumindest am Muttertag, lieber Blumen sprechen.
Als wir in Brülisau eintreffen, sind die Festivitäten bereits in vollem Gange. Der kleine
Weiler liegt am Fuß des Hohen Kasten (siehe Landkarte der Ostschweiz). Alle Einwohner
sind auf dem Weg zum Muttertags-Gottesdienst, auf den Treppenstufen der Kirche spielt
die örtliche Blaskapelle, und jeder trägt sein bestes Gewand. Bei den Frauen gehört dazu
ein steifer Kopfputz aus weißer Spitze, der an diese fächerförmigen Serviettenhalter erin-
nert. Das wichtigste Detail ist das Band, das hinten von der Haube herunterhängt: verhei-
ratete Frauen tragen ein rotes, Witwen ein schwarzes, ein weißes heißt, dass die Schöne
noch zu haben ist. Und wenn eine Frau keinen Kopfputz trägt, bedeutet das, dass sie ihr
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