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schilder und Straßenbahnen, denn sämtliche Konsumfallen des 21. Jahrhunderts verste-
cken sich unter den Arkaden, die auf einer Länge von insgesamt sechs Kilometern die
Hauptstraßen säumen. Dank ihnen ist Bern für einen Fußgänger die reinste Freude. Un-
behelligt von Regen, Schnee und Sommersonne schlendern Einkaufswillige hier entlang
und reduzieren das Tempo auf beerdigungstaugliches Schreiten. So war es für die Berner
keine Überraschung, als ihre Stadt 2007 als eine der langsamsten der Welt für Fußgänger
bewertet wurde. Nichts passiert hier schnell. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Al-
bert Einstein seine Relativitätstheorie entwickelt hat, als er hier lebte und arbeitete: Er
hatte alle Zeit der Welt, um über die Lichtgeschwindigkeit nachzudenken.
Meist schlägt auch die Politik in der Schweizer Hauptstadt ein gemächliches Tempo
an. Man sieht nicht selten ein Bundesratsmitglied unbeschattet von Leibwächtern auf den
Bus warten. Das heißt, falls Sie ihn oder sie erkennen. Denn Schweizer Politiker sind viel
unbekannter als ihre Kollegen in anderen Ländern, schon weil die Politik hier so viel
wichtiger ist als die Personen. Viele meiner Schweizer Freunde haben Schwierigkeiten,
die sieben Bundesratsmitglieder aufzuzählen, und da der Präsident alljährlich wechselt,
bekommt man auch kaum mit, wer gerade dran ist. Die Arbeit in der Bundesversamm-
lung ist ein Teilzeitjob: Nur vier Mal im Jahr gibt es eine jeweils dreiwöchige Sitzungspe-
riode, getagt wird also lediglich zwölf Wochen pro Jahr. Außer den Bundesräten gibt es
kaum Vollzeitpolitiker; die meisten verdienen ihr Brot als Rechtsanwälte, Lehrer, Polizei-
beamte oder Ärzte. Schweizer Parlamentsmitglieder bekommen auch kein Gehalt, son-
dern eine Aufwandsentschädigung für die Tage, an denen sie ihren parlamentarischen
Aufgaben nachgehen. Und weder Sekretärinnen noch Assistenten, geschweige denn ein
Zweitwohnsitz werden ihnen finanziert, Sahnehäubchen gibt's in der Schweiz nur auf
dem café mélange , absahnen kann man in diesem Amt also nicht. Alles funktioniert sehr
maßvoll und kostenbewusst, in krassem Gegensatz zu dem pompösen Bundeshaus, das
ein Heidengeld gekostet haben muss.
Drinnen wirkt alles (für meine englischen Augen) sehr viktorianisch, bombastische
Wandgemälde illustrieren Szenen der Schweizer Geschichte, dazu neugotische Lüster und
Tausende Festmeter geschnitztes Holz. Ein riesiges Standbild aus Stein, das die Eingangs-
halle dominiert, zeigt die drei Eidgenossen beim Rütlischwur, wenngleich sie verdächtig
Statisten aus Der Herr der Ringe ähneln. Über ihren Köpfen wölbt sich die Buntglaskup-
pel mit dem Schweizer Kreuz im Mittelpunkt und den Wappen aller Kantone rundum,
die es 1902 bei der Einweihung des Parlamentsgebäudes bereits gab. Was heißt, dass Jura
fehlt: Man hat das Wappen später abseits in die Mitte eines Bogens eingesetzt - eine Posi-
tion, die der Kanton auch im Denken vieler Schweizer einnimmt. Der Gesamteindruck ist
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