Travel Reference
In-Depth Information
überraschend unschweizerisch: schwülstig, triumphal, nationalistisch. Aber das Parla-
mentsgebäude wurde nun mal gebaut, als der neuentdeckte Nationalismus groß in Mode
war und sich selbst die Schweiz genötigt sah, Dinge aufzublähen. Sie mögen Schweizer
sein, aber sie sind auch nur Menschen und keine Vulkanier.
Unsere Führerin erklärte uns wirklich alles, auch wenn man gar nicht ahnte, dass man
es wissen wollte. So erfuhren wir etwa, dass jedes Mitglied der Bundesversammlung sei-
nen oder ihren eigenen Stuhl und Schreibtisch hat - anders als im House of Commons
hockt man hier also nicht dicht an dicht wie auf der Hühnerstange. Im Nationalrat sitzen
die Abgeordneten derselben Fraktion oder nach politischer Neigung zusammen, im klei-
neren Ständerat dagegen immer die beiden aus demselben Kanton. Wie niedlich. Ach ja,
der Sprecher des Nationalrats bekleidet übrigens das höchste Amt im Land. Der Präsident
beziehungsweise die Präsidentin ist also wirklich nur zum Händeschütteln da.
Am eigenartigsten ist dann die Besichtigung eines Deckengemäldes, das den Schweizer
Tourismus im 19. Jahrhundert zeigt. Drei Putten stellen als Stereotypen verkleidet die
Herkunftsländer der drei größten Urlaubergruppen dar: Der blonde Junge in Lederhosen
steht für Deutschland, ein schwarzhaariger Junge in quergestreiftem Hemd symbolisiert
Frankreich und ein rothaariger in kurzen Hosen England. Viele Schweizer nehmen diese
Klischees auch heute noch für bare Münze. Die Führerin deutet auf mich und meine
ebenfalls rothaarige Schwester (zu Besuch aus England) und bemerkt: »Wie unsere bei-
den englischen Gäste beweisen, trifft die Schweizer Vorstellung, dass die Briten rothaarig
sind, heute noch genauso zu wie damals.«
Was besonders die Schweizer in unserer Gruppe unheimlich komisch finden. Wir Bri-
ten assoziieren rotes Haar normalerweise mit keltischen Wurzeln, doch für die Schweizer
ist Brite und rothaarig eine feste Paarung. Niemand weiß, woher dieses Klischee stammt,
aber es hält sich hartnäckig. Ein Brite drückt sich gewählt aus, ist rothaarig und Teetrin-
ker, macht lustige Filme und gute Musik, kann aber nicht kochen und steht dem Schnee
hilflos gegenüber - so das Schweizer Bild. Im Großen und Ganzen ist die Schweiz anglo-
philes Gebiet: Man fühlt sich den Briten geistesverwandt, auch wenn diese ein bisschen
verschroben auf ihrer Monarchin als Staatsoberhaupt beharren, die sie auch noch als »die
Queen« betiteln, als gäbe es in Europa nur die eine.
Die Bundesversammlung hat übrigens erreicht, dass die Bevölkerung der Schweiz ih-
ren Abgeordneten weit mehr Vertrauen entgegenbringt, als das in vielen anderen Län-
dern der Fall ist. Eine landesweite Erhebung von 2009 nennt den Nationalrat an fünfter
Stelle der vertrauenswürdigsten Institutionen, gleich nach der Polizei und der Justiz und
weit vor der Regierung. Im Gegensatz dazu belegen politische Parteien die letzten Plätze
Search WWH ::




Custom Search