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kleinen Schnurrbart und womöglich einen Hut - einen schwarzen Hom-
burg. Der Mann könnte ein venezianischer avvocato gewesen sein, und
auf jeden Fall würdigte er Touristen keines Blicks. Aber ich würdigte
ihn eines Blicks, denn auf dem niedrigen Scheitelpunkt der Brücke zog
er ein weißes Taschentuch hervor und wischte sich über die Augen:
nicht beiläuig, nicht aus praktischen Gründen - ich bin mir sicher, es
lag nicht an der Kälte -, sondern auf eine langsame, konzentrierte, ver-
traute Art. Ich habe damals und auch später noch unwillkürlich ver-
sucht, mir seine Geschichte auszumalen; zuweilen nahm ich mir halb-
wegs vor, sie zu schreiben. Jetzt muss ich das nicht mehr, weil ich seine
Geschichte an meine angeglichen habe; er passt in mein Muster.
Auch Einsamkeit ist ein Thema. Doch die ist wiederum nicht so, wie
man sie sich vorgestellt hatte (falls man je versucht hatte, sie sich
vorzustellen). Es gibt im Wesentlichen zwei Arten von Einsamkeit: dass
man niemanden gefunden hat, den man lieben kann, und dass einem
der Mensch genommen wurde, den man tatsächlich geliebt hat. Die er-
ste Art ist schlimmer. Die seelische Einsamkeit in der Pubertät ist mit
nichts zu vergleichen. Ich erinnere mich noch an meine erste Reise
nach Paris im Jahre 1964; ich war achtzehn. Tag für Tag erfüllte ich
meine kulturellen Plichten - Galerien, Museen, Kirchen; ich kaufte mir
sogar eine Karte für den billigsten verfügbaren Platz in der Opéra
Comique (und ich erinnere mich an die unmögliche Hitze dort oben,
die unmöglichen Sichtlinien und die unmöglich zu begreifende Oper).
Ich war einsam in der Métro, auf den Straßen und in den öfentlichen
Parks, wo ich ganz allein auf einer Bank saß und einen Roman von
Sartre las, der wahrscheinlich von der existenziellen Einsamkeit han-
delte. Ich war selbst dann einsam, wenn sich andere meiner annahmen.
Wenn ich jetzt an diese Wochen zurückdenke, fällt mir auf, dass ich
mich nie in die Höhe begeben habe - der Eifelturm schien mir ein ab-
surder und absurderweise beliebter Bau zu sein -, wohl aber in die
Tiefe. Ich ging genauso in die Tiefe wie Nadar und seine Kamera hun-
dert Jahre zuvor. Auch ich besichtigte die Abwasserkanäle von Paris,
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