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Mensch sein als mit ihr? Später dachte ich: Aber er plappert ja nur Ni-
etzsches Spruch nach, dass uns das, was uns nicht umbringt, stärker
macht. Und wie es sich trift, halte ich dieses Epigramm schon lange für
ganz besonders trügerisch. Es gibt vieles, was uns nicht umbringt, aber
auf ewig schwächt. Man frage alle, die mit Folteropfern zu tun haben.
Man erkundige sich bei Beratungsstellen für vergewaltigte Frauen und
Opfer häuslicher Gewalt. Man sehe sich die Menschen an, die das ganz
normale Leben emotional beschädigt hat.
Leid rekoniguriert die Zeit, ihre Länge, ihre Beschafenheit, ihre Funk-
tion: Ein Tag bedeutet nicht mehr als der andere, warum sind sie
dann voneinander abgesetzt und tragen verschiedene Namen? Auch
der Raum wird rekoniguriert. Man ist in eine neue Geograie eingetre-
ten, die anhand einer neuen Kartograie dargestellt wird. Als orien-
tiere man sich an einer Landkarte aus dem siebzehnten Jahrhundert,
auf der die Wüste des Verlusts eingezeichnet ist, der (windstille) See
der Gleichgültigkeit, der (ausgetrocknete) Fluss der Trostlosigkeit, der
Sumpf des Selbstmitleids und die (unterirdischen) Höhlen der Erinner-
ung.
In diesem Neuland gibt es keine Hierarchie außer der des Gefühls,
des Schmerzes. Wer ist aus größerer Höhe abgestürzt, wer hat mehr
Eingeweide auf den Boden versprengt? Nur tritt das selten so ofen, so
ofenkundig traurig zutage. Das Leid hat auch eine groteske Seite. Man
verliert das Gefühl, dass das eigene Dasein rational oder gerechtfertigt
ist. Man kommt sich absurd vor, wie eine der von Schädeln umgebenen
kostümierten Puppen, die Nadar in den Katakomben fotograierte. Oder
wie diese Boa constrictor, die sich auf das Verschlingen von Sofakissen
verlegt hatte und erschossen werden musste.
Ich betrachte meinen Schlüsselring (der früher ihrer war): Es hängen
nur zwei Schlüssel daran, einer für die Haustür und einer für das Hin-
tertor des Friedhofs. Das ist mein Leben, denke ich. Ich bemerke selt-
same Kontinuitäten: Früher habe ich ihr immer den Rücken eingeölt,
weil ihre Haut schnell austrocknete; jetzt öle ich das trocknende
