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Leidtragende werden wütend, wenn andere vor den Tatsachen zurücks-
chrecken, vor der Wahrheit, selbst vor dem simplen Gebrauch eines
Namens. Doch wie viel Wahrheit sagen die Leidtragenden selbst, und
wie oft tragen sie insgeheim zu diesem Ausweichen bei? Denn die
Wahrheiten, in die sie gestürzt wurden, nicht nur bis zu den Knien, son-
dern bis zum Herzen, bis zum Hals, zum Gehirn, lassen sich manch-
mal nicht bestimmen, oder vielleicht sogar bestimmen, nicht aber aus-
drücken. Ich erinnere mich an einen Freund, der an Gallensteinen litt
und sich die Galle operativ entfernen ließ. Er sagte, es sei das Sch-
merzhafteste gewesen, was er je erlebt habe. Als Journalist war er es
gewohnt, alles zu beschreiben; ich fragte, ob er die Schmerzen bes-
chreiben könne. Er sah mich an, bei der Erinnerung traten ihm die
Tränen in die Augen, und er blieb stumm; er konnte keine Worte ind-
en, die auch nur annähernd brauchbar gewesen wären. Und die Worte
versagen schon auf einem niedrigeren Niveau, auf der reinen Gespräch-
sebene. Als ich noch glühte vor Leid, fragte mich ein Bekannter vor an-
deren Leuten: »Und, wie geht's dir so?« Ich schüttelte den Kopf, um
ihm zu bedeuten, dass das nicht der rechte Ort dafür sei (wir saßen
an einem lärmenden Mittagstisch). Er blieb hartnäckig und verfeinerte
die Frage, als ob das eine Hilfe wäre: »Nein, aber wie geht's dir so
bei dir?« Ich winkte ihn fort; außerdem fühlte ich mich gar nicht bei
mir, sondern ganz weit außer mir. Ich hätte mit einer Redensart wie
»Ein bisschen durchwachsen« darüber hinweggehen können. Das wäre
eine anständige, förmliche und englische Antwort gewesen. Nur liegt
Leidtragenden alles Anständige, Förmliche oder auch nur Englische
meist recht fern.
Man fragt sich: Bis zu welchem Grad ist es in diesem Aufruhr des Ver-
lusts sie, die mir fehlt, oder unser gemeinsames Leben oder das an ihr,
was mich mehr zu mir selbst werden ließ, oder fehlt mir einfach die
Gemeinschaft oder (nicht ganz so einfach) die Liebe oder alles zusam-
men oder sich überlappende Teile von allem? Man fragt sich: Welches
Glück liegt in der bloßen Erinnerung an das Glück? Und wie kann das
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