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Ein anderer Freund starb plötzlich, entsetzlich, am Gepäckband eines
ausländischen Flughafens. Seine Frau war einen Koferkuli holen
gegangen; als sie zurückkam, stand eine Menschentraube um etwas
herum. Vielleicht war ein Kofer aufgeplatzt. Aber nein, ihr Mann war
aufgeplatzt und bereits tot. Ein, zwei Jahre später, als meine Frau starb,
schrieb sie mir: »Der Punkt ist - die Natur ist da sehr genau. Es tut
exakt so weh, wie es die Sache verdient, darum genießt man den Sch-
merz gewissermaßen, glaube ich. Wenn es einem nichts ausmachte,
würde es einem nichts ausmachen.« Ich fand das tröstlich und ließ
ihren Brief lange auf meinem Schreibtisch liegen; allerdings hatte ich
meine Zweifel, ob ich den Schmerz je genießen würde. Aber ich stand
ja erst ganz am Anfang.
Ich wusste jedoch schon, dass für mich nur die alten Wörter infrage
kämen: Tod, Leid, Kummer, Traurigkeit, Herzeleid. Keine dieser mod-
ernen ausweichenden oder medikalisierenden Ausdrücke. Leid ist ein
menschlicher Zustand, kein medizinischer, und auch wenn es Tabletten
gibt, die uns helfen, unser Leid - und alles andere - zu vergessen, so
gibt es doch keine Tabletten, die es heilen. Leidtragende sind nicht
deprimiert, sondern nur gebührend, angemessen, mathematisch genau
(»Es tut exakt so weh, wie es die Sache verdient«) traurig. Ein eu-
phemistisches Verb, das ich besonders verabscheute, war »von uns
gegangen«. »Es tut mir leid, dass Ihre Frau von uns gegangen ist« (wo-
hin denn? Und wann kommt sie zurück?). Man muss anderen das Wort
»sterben« nicht aufzwingen, auch wenn man es selbst immer benutzt.
Es gibt doch einen Mittelweg. Bei einer gesellschaftlichen Veranstal-
tung, die sie und ich normalerweise gemeinsam besucht hätten, kam
ein Bekannter auf mich zu und sagte schlicht: »Da fehlt jemand.« Das
fühlte sich richtig an, in jeder Hinsicht.
Ein Leid kann ein anderes nicht erklären, aber es gibt Überschneidun-
gen. Und so kommt es zu einer Komplizenschaft der Leidtragenden.
Nur sie wissen, was sie wissen - und sei es auch nur, dass sie nicht
dasselbe wissen. Sie sind wie in einem Film von Cocteau durch einen
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