Travel Reference
In-Depth Information
Spiegel getreten und inden sich in einer Welt wieder, deren Logik und
Muster neu geordnet wurden. Ein kleines Beispiel. Drei Jahre vor dem
Tod meiner Frau wurde auch ein alter Freund von mir Witwer, der
Dichter Christopher Reid. Er schrieb über das Sterben seiner Frau und
die Zeit danach. In einem Gedicht schilderte er, wie die Lebenden die
Verstorbenen verleugnen:
doch auch ich habe den Stammeswillen erlebt,
der Tabus und Gesetze errichtet, habe mich schlecht benommen
und in Tischgesprächen meine tote Frau beschworen.
Eine kleine Stille, von geteilter Furcht und bleichem Entsetzen, senkt sich herab.
Als ich diese Zeilen zum ersten Mal las, dachte ich: Du musst ja komis-
che Freunde haben. Außerdem dachte ich: Du hast doch nicht wirklich
geglaubt, dass du dich schlecht benimmst? Später, als ich selbst an der
Reihe war, verstand ich. Ich habe sehr schnell die Entscheidung getro-
ffen (oder, was bei dem Aufruhr in meinem Kopf wahrscheinlicher ist,
die Entscheidung hat mich getrofen), von meiner Frau zu sprechen,
wann immer ich das wollte oder das Bedürfnis danach hatte: Es würde
ganz normal zu jedem normalen Gespräch gehören, sie zu
beschwören - auch wenn die »Normalität« sich längst verlüchtigt
hatte. Ich habe bald gemerkt, wie das Leid die Menschen um den
Leidtragenden herum sichtet und neu sortiert; wie Freunde auf die
Probe gestellt werden; wie einige die Prüfung bestehen, andere nicht.
Geteiltes Leid kann alte Freundschaften vertiefen oder auf einmal allzu
leichtgewichtig erscheinen lassen. Junge Menschen schneiden dabei
besser ab als die in mittleren Jahren, Frauen besser als Männer. Das
sollte eigentlich nicht überraschen, tut es aber doch. Schließlich könnte
man von denen, die einem nach Alter, Geschlecht und Familienstand
am nächsten stehen, am meisten Verständnis erwarten. Eine naive Er-
wartung. Ich erinnere mich an ein »Tischgespräch« in einem Restaur-
ant mit drei verheirateten Freunden etwa meines Alters. Alle drei hat-
ten sie jahrelang - zusammengenommen vielleicht achtzig oder neunzig
Jahre lang - gekannt, und alle hätten auf Befragen gesagt, sie hätten
sie geliebt. Ich nannte ihren Namen; niemand ging darauf ein. Ich tat
Search WWH ::




Custom Search