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türeliste und besorgte sich die gesammelten klassischen Texte für den
Trauerfall. Als der Moment da war, nützten sie ihr alle nichts. »Der Mo-
ment«: diese gefühlten Monate, die sich bei genauerer Betrachtung nur
als Tage erweisen.
Über Jahre hinweg dachte ich immer wieder daran, wie eine Roman-
schriftstellerin den Tod ihres älteren Mannes geschildert hatte. Inmit-
ten ihres Leids, so gab sie zu, erhob sich eine kleine innere Stimme der
Wahrheit und raunte ihr zu: »Ich bin frei.« Daran erinnerte ich mich,
als ich selbst an die Reihe kam, und ich fürchtete mich vor dem Wis-
pern dieser Souleurstimme, das wie ein Verrat klingen würde. Doch
ich hörte diese Stimme, diese Worte nicht. Ein Leid wirft kein Licht auf
ein anderes.
Leid ist, wie der Tod, banal und einzigartig. Darum hier ein banaler Ver-
gleich. Wenn man die Automarke wechselt, nimmt man plötzlich wahr,
wie viele andere Autos derselben Marke auf der Straße herumfahren.
Sie fallen einem auf wie nie zuvor. Wenn man verwitwet ist, nimmt man
plötzlich alle Witwen und Witwer wahr, die einem entgegenkommen.
Vorher waren sie mehr oder weniger unsichtbar, und für andere Fahr-
er, für die unverwitweten, bleiben sie das auch.
Jeder trauert auf seine Weise. Auch das erscheint selbstverständlich,
aber in dieser Zeit erscheint überhaupt nichts selbstverständlich, und
nichts fühlt sich selbstverständlich an. Ein Freund ist gestorben und
hat eine Frau und zwei Kinder hinterlassen. Wie haben sie reagiert?
Die Frau hat sich an die Renovierung des Hauses gemacht; der Sohn ist
in das Arbeitszimmer seines Vaters gegangen und nicht wieder heraus-
gekommen, bis er nicht jede hinterlassene Nachricht, jedes Dokument,
jedes kleinste Zeugnis gelesen hatte; die Tochter hat Lampions aus
Papier gebastelt, um sie auf dem See treiben zu lassen, dem die Asche
ihres Vaters übergeben werden sollte.
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