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wohl ihr der Gedanke ans Altwerden zuwider war - mit Mitte zwanzig
dachte sie, sie würde nie älter werden als vierzig -, sah ich unserem
weiteren gemeinsamen Leben fröhlich entgegen: dem Zustand, wenn
alles langsamer und ruhiger wird, dem gemeinschaftlichen Erinnern.
Ich konnte mir vorstellen, dass ich für sie sorge; ich hätte mir sogar -
auch wenn ich es nicht tat - vorstellen können, dass ich ihr wie Nadar
das Haar von den aphasischen Schläfen streiche und mich in der Rolle
des liebevollen Krankenplegers übe (und dass ihr diese Abhängigkeit
womöglich zuwider gewesen wäre, tut hier nichts zur Sache).
Stattdessen herrschten von einem Sommer bis zu einem Herbst Angst,
Schrecken, Sorge, Entsetzen. Zwischen Diagnose und Tod lagen
37 Tage. Ich habe versucht, nie wegzuschauen, mich immer der Situ-
ation zu stellen; die Folge war eine Art wahnsinniger Hellsichtigkeit.
Wenn ich abends aus dem Krankenhaus kam, ertappte ich mich meist
dabei, dass ich voller Groll auf die Leute starrte, die nach Feierabend
einfach nur mit dem Bus nach Hause fuhren. Wie konnten sie so müßig
und unwissend dasitzen und ihr gleichgültiges Proil zur Schau stellen,
wo sich die Welt doch gerade veränderte?
Wir können schlecht mit dem Tod umgehen, diesem banalen, einzigarti-
gen Ereignis; wir können ihn nicht mehr als Teil eines übergeordneten
Musters begreifen. Und um mit E. M. Forster zu sprechen: »Ein Tod
mag sich selbst erklären, aber er wirft kein Licht auf einen anderen.«
So wird auch das Leid unvorstellbar: nicht nur seine Länge und Tiefe,
sondern auch sein Ton und seine Beschafenheit, seine Täuschungen
und trügerischen Hofnungsschimmer, seine Neigung zu Rückfällen.
Auch sein anfänglicher Schock: Man ist plötzlich ins eiskalte Deutsche
Meer gefallen, nur mit einer absurden Korkweste ausgestattet, die ein-
en am Leben halten soll.
Und man kann sich niemals auf diese neue Realität vorbereiten, in die
man da eingetaucht wird. Ich kenne eine Frau, die dachte, oder hofte,
sie könne es doch. Ihr Mann hatte Krebs und lag lange im Sterben;
in ihrer praktischen Art erkundigte sie sich im Voraus nach einer Lek-
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