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Einmal, es war in der Nacht vom 15. August, Mariä Himmelfahrt, tat sich an der
Bar unseres Dorfes spontan eine Sängergruppe zusammen. Die Männer standen
eng beieinander, eine Hand am Ohr, um sich selbst besser zu hören, die andere
Hand um die Schulter des nächststehenden Sängers gelegt, stimmten sie die kor-
sische Hymne »Dio vi salvi Regina« an. Der Gesang schwoll an, er erfüllte die
Lut, ließ die Gläser klirren und trieb den Zuhörern die Tränen in die Augen. Als
die Töne über die Wipfel der Platanen in die Weite der Macchia davongelogen
waren, herrschte andächtige Stille. Nachdem ich mir verstohlen über die Augen
gewischt hate, sah ich, dass ich nicht die Einzige war, die in ihr Taschentuch
geschniet hate. Doch kaum waren die Tränen getrocknet, passierte etwas
Merkwürdiges: Ich fühlte mich seltsam aufgestachelt. In diesem Moment wäre
ich bedenkenlos bereit gewesen, mich in den Kampf für die korsische Sache zu
stürzen. Dieses geschundene Land! Diese gefühlvollen Menschen! Diese herzzer-
reißende Musik! Dieser Schatz muss doch bewahrt werden vor den Zumutungen
der Moderne!
Um die mitreißende Wirkung der korsischen Musik wissen auch die militanten
Nationalisten, weswegen die inbrünstigen Männergesänge seit jeher den
Soundtrack für ihre Aktivitäten bilden. Man braucht nur ein wenig auf YouTube
zu suchen, und schon indet man neben Lobpreisungen in allen Sprachen wie
»Amazing!«, »Hermoso!«, »Wunderschön!« und »Grazie, fratelli corsi!« auch
martialische Videos voller schwarz vermummter FLNC-Kämpfer mit Maschinen-
pistolen. Die Kommentare unter diesen Beiträgen sind deutlich: »Franzosen
raus!« steht da, es wird über Überfremdung geklagt und die Reinheit des korsis-
chen Volkes beschworen.
I Muvrini zum Beispiel steht unter Beschuss, weil sie moderne, »unkorsische«
Instrumente wie Schlagzeug oder E-Gitarre verwendet, also für die Ohren der
Nationalen nicht traditionell genug klingt. Die achselzuckende Antwort von
Jean-FranÇois Bernadini, der die Gruppe in den frühen Achtzigern zusammen
mit seinem Bruder gegründet hat (und damals noch stärker für die nationale
Sache entlammt war): »Wir sind keine Indianer im Reservat. Die Gesellschat
verändert sich, und die Musik entwickelt sich mit ihr. Ich lebe schließlich nicht
mehr wie mein Großvater, warum also sollte ich so singen wie er?«
Musik hat auf Korsika natürlich auch eine beschwingte, lichte Seite. In lauen
Sommernächten werden für den Grand Bal große Lautsprecher auf den Dorfplatz
jedes noch so kleinen Bergnestes getragen. Nach dem Essen messen sich die Al-
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