Travel Reference
In-Depth Information
drangen, klangen gespenstisch, sie beschimpte ihre verbliebenen Söhne aufs Un-
lätigste und nannte sie Versager, Feiglinge und Idioten, wobei das noch die
harmloseren Schimpfwörter waren. Mein Bekannter hate bis dato angenommen,
die Aufstachelung zur Blutrache seitens der Frauen gehöre ins Reich der Le-
genden oder sei zumindest ausgestorben. Aber nun wurde ihm klar: Er wohnte
soeben einem echten voceru bei. Diese Frau wollte, dass ihre Söhne ihren toten
Bruder rächten. Und die Söhne? Die ließen das Zornesgewiter mit gesenkten
Köpfen, die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben, über sich ergehen. Sie
wussten, sie haten keine Wahl.
Der Aufwand, den die Hinterbliebenen früher beim anschließenden mehrere
Tage dauernden Leichenschmaus trieben, stürzte so manche Familie in den Ruin.
Vor allem wenn, wie es in Zeiten der Vendeta häuig vorkam, binnen weniger
Tage mehrere Tote zu beklagen waren. Starb ein Ehemann, trug seine Witwe ihr
gesamtes restliches Leben Schwarz. So kam es, dass das hochgeschlossene
schwarze Kleid und das schwarze Koptuch bis ins 21. Jahrhundert hinein so et-
was wie die korsische Nationaltracht waren. Auch ich kann mich noch gut daran
erinnern, wie diese schwarz gekleideten Frauen früher in Gruppen auf dem Dorf-
platz saßen und sich mit gedämpten Stimmen unterhielten. Das heißt, wenn sie
überhaupt noch das Haus verließen, denn eine korsische Frau in Trauer blieb ei-
gentlich in ihren eigenen vier Wänden.
Eine der wenigen Gelegenheiten, das Haus zu verlassen, bot der sonntägliche
Kirchgang, der gesellschatliche Höhepunkt der Woche. Denn abgesehen von
wenigen protestantischen Franzosen, war Korsika fast vollständig katholisch.
Allerdings gibt es einen kleinen, aber bedeutsamen Unterschied zwischen
Glauben und Kirche, und der hat eine lange Tradition. Zahlreiche Kirchen aus
pisanischer und genuesischer Zeit zeugen noch heute davon, dass es vor allem
die fremden Herrscher waren, die sich darum bemühten, die Insel zu christianis-
ieren. Der Geistlichkeit wurde deswegen lange mit einer Mischung aus Respekt
und Misstrauen begegnet. Früher bestand der niedere Klerus aus ganz normalen
Männern aus dem Volk. Wie alle anderen auch waren auch sie in Blutrachefe-
hden, familiäre und politische Streitereien verwickelt. Außerdem sollen sie es mit
dem Zölibat nicht allzu genau genommen haben und haten ot Frau und Kinder.
Sie galten als lockere Gesellen und Schmarotzer der Gemeinden, weil sie auf
Spenden angewiesen waren und nicht von der Kirchensteuer lebten. Auf der an-
deren Seite kämpten sie ot für die Unabhängigkeit Korsikas und waren deswe-
Search WWH ::




Custom Search