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seres Daseins. Ein einzigartiges Wissen, das man nirgendwo anders in Europa
indet.
Interessant dabei ist, dass die mazzeri nur eine einzige Disziplin beherrschten: die
des Todesboten. Und auch die Geister mit ihren Fistelstimmen waren ziemlich
jenseitsverliebt und haten sonst keine Zauberkunststücke zu bieten. Immer ging
es um Krankheit und Tod, nie um etwas Positives wie eine Geburt oder unerwar-
tete Reichtümer. Ich vermute, der Denkfehler liegt bei mir. Warum muss der Tod
denn immer automatisch etwas Schreckliches sein? Er gehört nun mal zum Leben
dazu, das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Deswegen stürzen sich die
Korsen vermutlich auch mit großer Hingabe in die Trauer, wenn jemand der
Ihrigen stirbt. Jeder Korse schlägt morgens als Erstes die Zeitungsseite mit den
Traueranzeigen auf, es könnte ja sein, dass es jemanden aus der eigenen Groß-
familie oder einen Freund erwischt hat, erst danach kommt der Weterbericht.
Ist jemand gestorben, wird die Leiche vor der Beerdigung zu Hause aufgebahrt.
Verwandte und enge Freunde gehen ein und aus. Früher muss das ein dramat-
isches Schauspiel gewesen sein. Die Türen und Fensterläden des vom Unglück
heimgesuchten Hauses wurden geschlossen, ot wurde dessen Fassade zusätzlich
schwarz gestrichen. Die Totenwache fand im besten Zimmer stat, das der An-
dacht an die verstorbenen Familienmitglieder vorbehalten war. Zahlreiche Foto-
graien dieser Vorfahren, antichi oder antinati genannt, zierten dessen Wände.
Der großartige Schritsteller W.G. Sebald, der bei einem Autounfall ums Leben
gekommen ist, hinterließ das Fragment einer Spurensuche auf Korsika. In der
posthum publizierten Passage »Campo Santo« beschreibt er folgende Szene:
»Unter ihrem unbestechlichen Blick [gemeint sind die Fotograien der Vorfahren]
fand die Totenwache stat, bei der die sonst zum Schweigen verurteilten Frauen
die führenden Rollen übernahmen, die ganze Nacht hindurch ihre Klagen sangen
und schrien und, insbesondere wenn es sich um einen Ermordeten handelte, wie
die Furien der Vorzeit das Haar sich rauten und das Angesicht sich zerkratzten,
allem Anschein nach vollkommen außer sich vor blindem Zorn und Schmerz,
während die Männer draußen im insteren Hauseingang und auf der Stiege
standen und mit den Kolben ihrer Gewehre auf den Fußboden klopten.«
Ein Bekannter von mir hat vor ein paar Jahren eine ähnliche Szene erlebt. Er
ging zur Totenwache in das Haus einer Familie, die die Ermordung ihres Sohnes
zu beklagen hate. Nach vielen Stunden, die meisten Gäste waren längst gegan-
gen, erhob sich die Muter des Toten. Die Laute, die plötzlich aus ihrer Kehle
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