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dem Kindersegen. Immerhin kamen in der nächsten Generation in jeder Familie
zwischen einem und drei Enkel für Nonna Antonieta auf die Welt. Was bereits
deutlich über dem Schnit liegt, aber andererseits typisch für eine Familie südit-
alienischer Herkunt ist, bei der es mehr Kinder gibt als im Norden.
Beispielhat ist auch die Nachkriegsgeschichte Antonietas. Ende der Sechzi-
gerjahre zogen zunächst der Ehemann, der seine Anstellung aufgegeben hate,
sowie ihr Bruder und zwei erwachsene Kinder nach Norditalien in die Nähe Mail-
ands, um dort Arbeit zu suchen. Bald darauf wurde der Rest der Familie
nachgerufen. Der soziale Aufstieg ermöglichte es den jüngeren Kindern, eine
bessere Schule zu besuchen, Abitur zu machen und später sogar zu studieren.
In einer großen Wanderbewegung von Süd- nach Norditalien hat zwischen
1950 und 1975 fast ein Dritel der Bevölkerung Italiens den Wohnsitz gewechselt.
Einige sind zurückgekehrt, um mit dem verdienten Geld den Ruhestand zu
genießen. Viele blieben jedoch im Norden, was später in den Neunzigerjahren
den kleinbürgerlichen Rassismus der Lega Lombarda/Lega Nord genährt hat.
Bereits zu Zeiten dieser »inneren Emigration« war es vereinzelt zu sozialen Kon-
flikten gekommen, wie sie zum Beispiel Viscontis Film »Rocco und seine Brüder«
beschreibt. Man konnte damals sogar im liberalen Turin vereinzelt Schilder mit
der Aufschrit sehen: »Ich vermiete nicht an Süditaliener.« Im Großen und Gan-
zen ist diese Wanderbewegung allerdings in zivilen Bahnen verlaufen.
Wenn Nonna Antonieta im hohen Alter im Sommer zu Besuch nach Sardinien
kam (ihre Geschwister leben, soweit sie noch leben, alle noch dort), galt sie im
Ort als eine, die es geschat hate: Sie hate ihre Familie groß und stark gemacht,
und sie konnte sie zusammenhalten. Was zum Teil aber nur aus der Ferne so aus-
sieht, denn längst ist der Zusammenhalt unter den Familien ihrer Kinder nicht
mehr so eng wie in früheren Generationen, und jede lebt den Zeiten ents-
prechend weitgehend für sich.
In Antonietas alter Straße in Bosa an der Küste Westsardiniens hat sich eben-
falls vieles verändert. Als ich Mite der Siebzigerjahre zum ersten Mal dort
hinkam, spielte sich noch das ganze Familienleben zu einem großen Teil im
Freien ab. Die Frauen saßen in Gruppen vor ihren einfachen Häusern, webten
oder klöppelten, beredeten den Alltag, und überall spielten Kinder. Durch die ver-
winkelte, mit Treppen abgesetzte Gasse passte kein Auto, nicht einmal ein Fiat
500. Manchmal kamen Touristen vorbei, die die Decken und Tücher kauten,
welche die Frauen gerade gefertigt haten. In den Häusern liefen bei ofenem Fen-
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