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Doch wohin mit einer weiteren knap-
pen Million Arbeitsloser?
Im Januar 1999 kam es unter An-
führung des Chefs der radikalen Bau-
ernpartei Samoobrona („Selbstvertei-
digung“), Andrzej Lepper, zu bürger-
kriegsähnlichen Tumulten. Tausende
Landwirte folgten seinem Ruf und blo-
ckierten landesweit die Straßen, um
für eine höhere Subventionierung ih-
rer Produkte sowie die stärkere Ab-
schottung Polens vor lächerlich billi-
gen Lebensmitteleinfuhren aus der EU
zu demonstrieren.
Nicht dass man als Bauer deshalb
nun gleich Kommunist wäre ... Aber
man verdiente im Sozialismus schließ-
lich das Anderthalbfache des Städters,
heute dagegen nur noch 40 Prozent.
Und überhaupt war die Welt zur Zeit
der Volksrepublik eindeutiger, selbst
am schlechten Wetter hatten die Kom-
munisten Schuld.
Dass sich 2002, zwei Jahre vor dem
Beitritt zur Europäischen Union, nur
noch knapp die Hälfte der Polen für
die Gemeinschaft aussprach - 1998
waren es immerhin 80 Prozent -, war
gewiss auch der für den Beitritt erfor-
derlichen rücksichtslosen Haushalts-
konsolidierung und den damit zusam-
menhängenden ständig wachsenden
gesellschaftlichen Spannungen zu
verdanken. Die sozialen Härten, die
der ökonomische Transformationspro-
zess mit sich brachte, schwächten die
Europa-Begeisterung zunehmend.
Die andere, positive Seite des EU-
Beitritts 2004 zeigte sich spätestens
2007. Zig-Milliarden-Beträge flossen
und fließen seither ins Land und tra-
gen zum Wirtschaftsboom bei, in
Form von EU-Fördermitteln ebenso
wie durch kapitalgewaltige Auslands-
investoren. Auf 7,1 Prozent belief sich
im ersten Halbjahr 2007 die Wachs-
tumsrate, fast drei Mal so hoch wie in
Deutschland. Die Arbeitslosigkeit ist
auf durchschnittlich zwölf Prozent zu-
sammengeschmolzen, in den Groß-
städten herrscht Mangel an qualifizier-
ten Arbeitskräften. Die Exportwirt-
schaft brummt, die Binnenwirtschaft
wächst, Shoppingzentren sprießen
wie Pilze aus dem Boden - und sie
sind voll mit kaufkräftigen Kunden. Be-
sonders den Großstädten geht es
sehr gut: Warschau, Krakau, Lodz,
Breslau, Posen, Danzig. Das gut aus-
gebildete, liberale Stadtbürgertum lebt
und verdient mit der Globalisierung.
Doch ob Stadt oder Land, arm oder
reich, nationalkonservativ oder welt-
bürgerlich, auf den meisten Autos zwi-
schen Oder und Bug prangt nach wie
vor stolz der blaue EU-Aufkleber. Ein
Zeichen der europäischen Zugehörig-
keit, wie sie ein alter kaschubischer
Herr einmal ausdrückte: „Schauen Sie
doch mal auf die Landkarte“, sagte er,
„durch unser Land führt der 15. Meri-
dian östlicher Länge, nach dem die
Mitteleuropäische Zeit eingestellt wird.
Soll Polen also etwa im Osten liegen?
Nein, Polen ist im Herzen Europas.“
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