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Schon 1989 schnürte die Regierung
deshalb ein Maßnahmenpaket für den
Übergang in die Marktwirtschaft.
Nach dem damaligen Finanzminister
Leszek Balcerowicz „Balcerowicz-
Plan“ genannt, war es an Radikalität
kaum zu überbieten. Schocktherapie-
artig leitete es den Systemwandel ein.
Durch nichts wurde er abgefedert und
brachte neben sozial kaum flankierten
Privatisierungen, Betriebsschließungen
und Massenentlassungen zunächst ei-
ne galoppierende Inflation. In der
zweiten Jahreshälfte 1989 belief sich
der Preisauftrieb auf 1500 (!) Prozent,
1990 betrug er noch 600 Prozent,
schrumpfte 1991 auf 70 Prozent, lag
2001 bei 7,5 Prozent und unterschritt
2003 die Einprozentmarke.
Trotz anhaltendem Wirtschafts-
wachstum entwickelte sich die Ar-
beitslosigkeit zum zentralen Problem.
Freier Wettbewerb wuchs sich zu ei-
nem rüden Manchesterkapitalismus
aus. Oder gehört etwa nicht alles, was
die Firma umsetzt, dem Chef? Mit
dem verblassenden Stern der Solidar-
ność-Bewegung verschwand zuse-
hends auch die Idee der sozialen Ver-
antwortung und Solidarität. Wohl hat-
te vor allem die großindustrielle Arbei-
terschaft den Kommunismus hinweg-
gefegt, aber nun fielen als Erstes ihre
eigenen eingerosteten Betriebe den
marktwirtschaftlichen Reformen zum
Opfer.
Des ungeachtet erwies sich Polen
bereits kurz nach der Wende als Mus-
terschüler unter den ostmitteleuropäi-
schen Ländern, die sich um eine EU-
Mitgliedschaft bewarben. Mit jährli-
chen Wachstumsraten von sechs bis
sieben Prozent Mitte der 1990er Jahre
zog es den anderen Beitrittskandida-
ten davon. Aber um welchen Preis?
Die Kluft zwischen Stadt und Land
vergrößerte sich. Während Warschau
boomte und Finanzinvestoren aus aller
Herren Länder anlockte, versanken
ganze Landstriche in Armut. Und war
ausnahmslos allen polnischen Regie-
rungen an der Privatisierung von Ban-
ken und Unternehmen gelegen, hat
bislang noch keine einzige einen trag-
fähigen Entwurf für den ländlichen
Strukturwandel aus der Schublade ge-
zogen.
Insbesondere die Situation der Bau-
ern verschlechterte sich dramatisch.
Hunderttausende Kleinbauern, die
sich einst siegreich gegen die Kollekti-
vierung stemmten, können sich mit
ihren schmalen Parzellen dem interna-
tionalen Wettbewerb nicht mehr stel-
len. Die Mitgliedschaft in der Europäi-
schen Union fordert vor allem im
Agrarsektor ihren Tribut. Und das in ei-
nem Land, in dem die Bauern einen so
hohen Anteil an der Bevölkerung stel-
len wie nirgends sonst in Europa.
Mehr als ein Viertel sämtlicher Be-
rufstätigen in Polen ist in der Landwirt-
schaft beschäftigt, zwei Drittel der
Höfe gelten als unrentabel. Sie sind
zu klein und dienen überwiegend der
Eigenversorgung. Insgesamt erwirt-
schaftet der Agrarsektor keine fünf
Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Er-
go: Im Rahmen der EU-Mitgliedschaft
muss der Beschäftigtenanteil in der
Landwirtschaft bis 2010 um etwa
900.000 Personen abgebaut werden.
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