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Exkurs 2.5
Gefährdungen durch gravitative Massenbewegungen
Rainer Bell und Thomas Glade
In Europa treten gravitative Massenbewegungen besonders
in Hoch- und Mittelgebirgen auf. Aber auch in hügeligen
Regionen kann es bei sehr anfälligen Lithologien bereits
bei äußerst geringen Hangneigungen zu Rutschbewegun-
gen kommen, beispielsweise in Teilen der Molassezone ab
5 Grad Hangneigung. Gerade in den hügeligen Regionen
und Mittelgebirgen werden die Gefährdungen und Risiken
durch gravitative Massenbewegungen häufig unterschätzt.
Gravitative Massenbewegungen sind hangabwärts ge-
richtete Verlagerungen von Fels- und/oder Lockergesteinen
unter der Wirkung der Schwerkraft. Sie umfassen sehr
unterschiedliche Prozesstypen, wie Fallen, Gleiten, Fließen,
Kippen, Driften, und komplexe Prozesse (Dikau & Glade
2002). Im Folgenden werden nur die ersten drei Prozessty-
pen kurz erläutert. Unter Fallen werden sämtliche Sturzpro-
zesse von Fels- oder Lockergestein verstanden, bei dem
sich das Material überwiegend frei fallend, springend oder
rollend hangabwärts bewegt. Je nach Größe werden Stein-
schlag, Felssturz und Bergsturz unterschieden. Beim Glei-
ten bewegen sich Fels- oder Lockergesteine entlang einer
Gleitfläche hangabwärts. Im Allgemeinen werden diese Pro-
zesse auch als Rutschungen oder Hangrutschungen be-
zeichnet. Fließen beschreibt eine kontinuierliche Deforma-
tion von Fest- oder Lockergesteinen, dessen Bewegung der
einer viskosen Flüssigkeit gleicht. Dazu gehören die in Steil-
lagen weit verbreiteten Muren.
Zur Erläuterung der europäischen Dimension von gravi-
tativen Massenbewegungen können einzelne repräsenta-
tive Ereignisse beispielhaft beschrieben werden. Der Fels-
sturz von Randa in der Schweiz beispielsweise trat in zwei
Phasen auf: Am 21. April 1991 stürzten 22 Millionen Kubik-
meter und am 9. Mai 1991 weitere 7 Millionen Kubikmeter
Gestein ins Tal hinunter. Beide Massen verschütteten den
Talboden des Mattertals (Abb. 1a), unterbrachen die Haupt-
verkehrswege (Straße, Eisenbahn) und stauten den Fluss
Matter Vispa auf. Die entlastete Gebirgsflanke kriecht
immer noch mit mehreren Millionen Kubikmetern Gestein
hangabwärts (Sartori et al. 2003).
Ein anderes Beispiel ist die Berggleitung Groapa Vântu-
lui auf der rechten Seite des Siriu-Stausees im Buz ă u-
Gebirge in Rumänien (Abb. 1b). Diese kombinierte Fels- und
Lockergesteinsgleitung mit einer Gesamtmasse von 2,5
Millionen Kubikmetern und einer durchschnittlichen Mäch-
tigkeit von 20 bis 30 Metern wurde durch langanhaltende
Starkniederschläge ausgelöst. Die in einem Flyschtal gela-
gerte holozäne Rutschmasse wurde nach mindestens 120
Ruhejahren reaktiviert und blockierte den Stausee komplett
über eine Tiefe von etwa 50 Metern an der Eintrittsstelle.
Erste Bewegungen kündigten sich bereits im Septem-
ber/Oktober 2005 an, die eigentliche Bewegung begann im
März und endete im September 2006. Die wirtschaftliche
Nutzung des Stausees ist für die Energiegewinnung und als
Reservoir zur Bewässerung bis heute nachhaltig einge-
schränkt.
Ein weiteres, in Europa weit verbreitetes Phänomen sind
Schuttströme von bis zu mehreren Kilometern Länge und
10er-Metern Mächtigkeit. Ein klassisches Beispiel ist der
Chirlesti-Schuttstrom in Rumänien (Abb. 1c). Er ist 1,3 Klio-
meter lang, hat eine Breite von etwa 50 Metern, eine durch-
schnittliche Mächtigkeit von 5 bis 6 Metern und fließt pul-
sierend, das heißt über mehrere Wochen überhaupt nicht
und dann plötzlich mit bis zu 100 Metern pro Stunde (Micu
& B ă lteanu 2009). Solche Schutt- und Erdströme treten in
vielen europäischen Regionen auf, unter anderem auch in
Ungarn, Österreich, Schweiz, Frankreich und Italien.
Von besonderer Bedeutung sind neben den bisher vor-
gestellten Großereignissen auch Ereignisse mit der Auslö-
sung von multiplen Rutschungen und/oder Muren, wie zum
Beispiel im Juli 2010 im Kleinsölktal in Österreich aufgetre-
ten. Auch wenn jede einzelne Rutschung bzw. Mure wesent-
lich kleiner ist, so können diese flächenhaft doch enorme
Schäden an der agrarwirtschaftlichen Nutzung, an Ver-
kehrswegen und Siedlungen verursachen (Abb. 1d).
Gravitative Massenbewegungen verursachen in Europa
beträchtliche Schäden. Für den Zeitraum 1900 bis 2010
weist die EM-DAT ( The OFDA/CRED International Disaster
Database, www.em-dat.net, Université Catholique de Lou-
vain - Brussels - Belgium ) ökonomische Schäden in Höhe
von ungefähr 2,7 Milliarden US-Dollar und 4325 Todesopfer
aus. In beiden Kategorien sind die größten Schäden jeweils
in Italien zu verzeichnen. Durch gravitative Massenbewe-
gungen verursachte Schäden bzw. Tote sind laut Datenbank
auch in der Schweiz, in Österreich, Spanien, auf den Azo-
ren, in Schweden, Frankreich, Deutschland, Island, Russ-
land, Großbritannien, Norwegen, Tschechien, in der Slowa-
kei, in Bulgarien und Bosnien-Herzigowina aufgetreten. Da
man davon ausgehen muss, dass die Datenbank vor allem
in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sehr
lückenhaft ist, nur die gemeldeten Ereignisse beinhaltet und
zudem nur ab gewissen Schwellenwerten die Ereignisse
aufgenommen werden (z. B. mindestens zehn Todesopfer
pro Ereignis), ist mit weit höheren Schadensausmaßen für
den angegebenen Zeitraum zu rechnen. Genauere Zahlen
für Italien geben Salvati et al. 2010 an. Für den Zeitraum
1950 bis 2008 haben sie ermittelt, dass gravitative Mas-
senbewegungen zu 4077 Todesopfern führten. Zudem
Fortsetzung
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