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Exkurs 8.7
Europa im Jahr 2068
Ein vor einigen Jahren erschienener „Köln-Krimi“ mit dem
Titel „2068“ zeichnet als Plot die Stadt Köln im Jahr 2068
nach. Nach Jahren innerer Wirren in Europa hat im Rahmen
der „Großen Chinesischen Wende“ im Jahre 2048 China die
Oberhoheit über Europa übernommen und dessen Gesell-
schafts- und Wertesystem sukzessive umgekrempelt. Die
rote Fahne weht über Köln, der Hauptstadt der „deutschen
Region“. Überalterung, allgegenwärtige Kontrolle und eine
reaktionäre Politik bestimmen das Leben, das zu einer Wüs-
te aus „gesundheitspolitisch korrektem Verhalten“ wird.
Amerikanismen verschwinden zugunsten von China-Ein-
sprenglingen aus der Sprache, die Einwohner sprechen eine
Mischung aus Chinesisch und Deutsch - Chineutsch: Wei-
schingheit = Gesundheit, Südmeigu = Südamerika, Sinnfu =
Glück …
Die allgemeine Philosophie ist die eines „mittleren
Weges“ - die Einwohner von Köln werden mittels vielfältiger
Chemikalien ungebührlicher Emotionen wie Aufregung, Är-
ger und so weiter beraubt. Ein permanent am Armgelenk
getragenes (bzw. in der neueren Version implementiertes)
Überwachungsgerät mit dem schönen Namen „Zwangjang“
überwacht solche Emotionen und fordert den jeweiligen
Bürger auf, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, an-
dernfalls gibt es Strafpunkte. Bei einer gewissen Anzahl ist
man „bingo“, wird also in eine geschlossene Anstalt einge-
liefert und verschwindet aus dem Leben.
Gegen diese brave new world unter chinesischer Ägide
kämpft eine Gruppe entmündigter alter Menschen um den
„grauen Edgar“. Sie treffen sich heimlich in den Ruinen der
romanischen Kirchen von Köln, machen Musik auf alten
Instrumenten und spielen Titel aus längst vergangenen Zei-
ten - „Born to be wild“ . Ihre Forderungen bringen sie auf die
kurze Formel „Butter, Zigs and Vigs. Damit ist gemeint
einerseits die Forderung nach Butter anstelle der inzwi-
schen gängigen chemischen Ersatzprodukte, gemeint sind
aber auch Zigaretten und Viagra, kurz alles, was der neuen
political correctness der chinesischen Herren widerspricht.
Sie üben unter anderem auch sexuelle Repression aus.
Der Plot des Krimis, bei dem der „graue Edgar“ unter
seltsamen Umständen ums Leben kommt, muss hier nicht
näher interessieren. Im Stil bekannter Zukunftsromane wie
„1984“ oder „Brave new world“ wird hier die Perspektive
eines zukünftigen Europas skizziert, dass seine globale
wirtschaftliche und politische Bedeutung, die es über 500
Jahre aufrechterhalten konnte, verloren hat und in die Rolle
einer abhängigen und unterdrückten Nation gerät, also
genau das, was Europa lange Jahrhunderte gegenüber den
heutigen Entwicklungsländern, aber um 1900 auch gegen-
über China, vorexerziert hatte.
menleben unterschiedlicher Ethnien und Religions-
gruppen. Posener fragt, wie Europa das Trauma des isla-
mischen Imperialismus verdrängen konnte. „[…] Euro-
pas Politiker müssen das Handwerk des Imperiums neu
lernen, damit Europa vom Baltikum bis zum Balkan,
vom Schwarzen Meer bis zum Atlantik und weit nach
Afrika hinein seiner zivilisatorischen Verantwortung
gerecht werden und seine Interessen verteidigen kann“
(Posener 2007).
Wiederum etwas anders, nämlich als weltweite Frie-
densmacht, sieht Sheehan die künftige Rolle Europas. Er
leitet diese Rolle aus der geschichtlichen Erfahrung des
Halbkontinents ab. In seinem jüngsten Buch „Kontinent
der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden“ zeichnet
der Historiker der Stanford University den Weg Europas
im 20. Jahrhundert nach. Er beginnt mit zwei Ereignis-
sen, denen er Symbolkraft beimisst: „Freudestrahlend
zogen in ganz Europa am 1. August 1914 Menschenmas-
sen auf die öffentlichen Plätze, um ihrem Jubel Aus-
druck zu geben. Endlich Krieg! 90 Jahre später hingegen
gab es die größte Massendemonstration in der europä-
ischen Geschichte gegen einen Krieg, den Irakkrieg von
George W. Bush und Tony Blair“ (Sheehan 2008).
Er interpretiert dies als dramatischen Bewusstseins-
wandel, an dessen Ende sich nach der verstörenden
Erfahrung von zwei Weltkriegen das aufgeklärte Ideal
einer Friedensmacht durchgesetzt habe: Europa von
einem Kontinent der Kriege zu einer pazifistischen
Zivilgesellschaft, ein Ansatz der in der Philosophie der
Aufklärung, im Marxismus und anderen abendländi-
schen Denkinstrumentarien ja immer schon angelegt
war.
In geographischer Sicht, so hat die Einleitung zu die-
sem Kapitel deutlich gemacht, ist Europa auf dem Weg
zu einer „Normalisierung“ und „Provinzialisierung“. Es
wird, im Konzert der alten Industriestaaten und der
neuen BRIC-Länder, zu einer Wirtschaftsregion unter
vielen.
Gegenüber den Diskursen über die politische Rolle
Europas in der Welt haben sich in den vergangenen vier
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