Geography Reference
In-Depth Information
Jahren sehr viel stärker kontroverse Diskussionen über
seine ökonomische Rolle, insbesondere die finanzwirt-
schaftlichen Disparitäten innerhalb der Europäischen
Union, entfaltet. Vieles, was noch vor wenigen Jahren in
Europa als selbstverständlich gegolten hat, wird inzwi-
schen infrage gestellt. Während der Produktionszeit des
vorliegenden Buches geriet - seit der amerikanischen
Immobilienkrise 2008 - sukzessive die 2001 in den Staa-
ten Mittel-, West- und Südeuropas eingeführte Gemein-
schaftswährung Euro massiv in die Krise. Immer rascher
aufeinanderfolgende, mitunter durchaus absurd klin-
gende Vorschläge, die Krise zu meistern, durchzogen
insbesondere die Jahre 2011 und 2012: Blumige Meta-
phern wie „Schuldenbremse“, „Rettungsschirm“, „Euro-
bonds“, „Doppelwährung“ für Griechenland, Austritt
Griechenlands (oder aber Deutschlands) aus der Ge-
meinschaftswährung umschreiben letztlich die Ratlosig-
keit von Wirtschafts- und Finanzfachleuten wie Politi-
kern, die Euro-Krise zu lösen.
Für die politische und wirtschaftliche Geographie
Europas sind vor allem die räumlichen Folgen des
Finanzdesasters von Interesse: Überlegungen, die erst
jüngst abgeschafften Grenzkontrollen zwischen einzel-
nen Nationalstaaten der EU wieder einzuführen, Vor-
schläge, die Gemeinschaftswährung auf die Kernstaaten
der ehemaligen EWG zu konzentrieren, die Furcht
schließlich, wieder stärker als im letzten Jahrzehnt in
nationalstaatliche Egoismen zurückzufallen.
So gesehen muten manche Passagen des Buches über
die gemeinsame Zukunft der europäischen Staaten
„vom Kanal bis zum Ural“ aktuell wie eine sich zuneh-
mend entfernende Utopie an. Es bleibt zu hoffen, dass
die Utopie wieder lebt, wenn das Buch auf dem Markt
ist. Die aktuellen Ereignisse zeigen aber auch, dass das
21. Jahrhundert in Europa ein Jahrhundert der Geogra-
phie ist; wir leben in einer Gesellschaft, in der Räume
und Raumzugänge, Verfügbarkeiten wie räumliche Nut-
zungsbeschränkungen auf verschiedensten Ebenen stän-
dig neu ausgehandelt werden. Sei es im Bereich der Poli-
tischen Geographie, wo nach dem Ende des Kalten
Krieges eine neue Vielfalt und Unübersichtlichkeit an
Raumbildern, Raumdiskursen und Zugehörigkeiten
ausgebrochen ist - bedingt auch durch die Entstehung
neuer Staaten, den Zerfall alter oder den massiven
Umbau von Staatlichkeiten, vor allem in den Gebieten
im ehemaligen Herrschaftsbereich der Sowjetunion.
Neu ausgehandelt werden aber nicht nur politische
Räume, sondern auch deren wirtschaftliche Rolle. Den
USA und der „alten Welt“ mit ihren Ökonomieblasen
und Krisensymptomen, ihren kaum zu bewältigenden
Schuldenbergen stehen die Ansprüche der BRIC-Staaten
auf regionale Gestaltungsmacht gegenüber: Die nächs-
ten Jahrzehnte werden uns in veränderte staatliche
Beziehungen und eine neue politische Weltordnung
führen.
Aushandlungsprozesse um Räume und neue Raum-
bezüge finden jedoch nicht nur im globalen und natio-
nalen Rahmen statt, sondern auch auf der Ebene des All-
tags und in unseren Städten. Öffentliche gegenüber
privaten Sphären, gated communities gegenüber bürger-
licher Freiheit und Nutzungskonkurrenzen um Infra-
struktur sind nur einige Beispiele für Verschiebungen im
Gefüge unserer Landschaftsräume - und gelegentlich
bietet es sich an, das aktuelle Geschehen mit großen
Linien der europäischen Konzepte von Raum zu verbin-
den: Den Protest der Occupy-Bewegung in den von
Banken beherrschten Innenstädten kann man beispiels-
weise dahingehend interpretieren, dass er der in den
totalen Markt verwandelten City die Tradition der anti-
ken Agora wiederbringt.
So verstandenen ist und bleibt Europa für Geistes-
und Sozialwissenschaften enorm spannend, wie sich
auch an der Entwicklung und Anwendung theoretischer
Kategorien im spatial turn zeigt, mit deren Hilfe das
aktuelle Geschehen gefasst werden soll: Konzepte wie
time-space compression , space of flows , hyperspace , dia-
spora , translocalities , hybrids, the global-local interplay ,
de-territorialization und glocalization sind geeignet die
Entwicklung Europas verstehend nachzuvollziehen und
kritisch zu kommentieren. Wir hoffen, dass dieses Buch
dazu beiträgt.
Weiterführende Literatur
Altvater E, Mahnkopf B (2007) Konkurrenz für das Empire: die
Zukunft der Europäischen Union in der globalisierten Welt.
Westfälisches Dampfboot, Münster
Bruckner P (2008) Der Schuldkomplex. Vom Nutzen und Nach-
teil der Geschichte für Europa. Pantheon, München
Chakrabarty D (2010) „Europa als Provinz“. Perspektiven post-
kolonialer Geschichtsschreibung. Aus dem Englischen von
Robin Cackett. Campus Verlag, Frankfurt am Main
Davis M (2004) Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastro-
phen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter.
Assoziation A, Berlin, Hamburg, Göttingen
Harvey D (2003) The new imperialism. Oxford University Press,
Oxford
Korf B (2011) Ach, Europa! In: Europa regional 17.2009 (2011)
4: 178-180
Osterhammel J (1995) Kolonialismus: Geschichte - Formen -
Folgen. Beck, München
Posener A (2007) Imperium der Zukunft. Warum Europa Welt-
macht werden muss. Pantheon, München
Sheehan JJ (2008) Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg
zum Frieden. C.H. Beck, München
Wallerstein I (1986) Das moderne Weltsystem I. Die Anfänge
kapitalistischer Landwirtschaft und die europäische Welt-
ökonomie im 16. Jahrhundert. Promedia Verlag, Wien
Wendt R (2007) Vom Kolonialismus zur Globalisierung. Europa
und die Welt seit 1500. Ferdinand Schöningh, Paderborn
Search WWH ::




Custom Search