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wurde damit zum Prototyp einer Beherrschungskolonie
ohne Siedlerelemente; 1947 erlangte Indien seine Unab-
hängigkeit.
Afrika hierzu jemand gehört wurde), ihre Kolonien,
Protektorate und Einflusssphären wechselseitig anzuer-
kennen. Diese paper partition wurde erst sukzessive in
partition on the ground , das heißt in effektive Besitz-
nahme, umgesetzt.
Die damaligen Grenzziehungen am Schreibtisch hat-
ten aber verheerende Langzeitfolgen, denn sie haben in
fast allen Fällen bis heute Bestand. Für Afrika bedeutete
die koloniale Aufteilung des Kontinents nicht selten das
Trennen von Zusammengehörigem, häufig aber auch
eine erzwungene Verschmelzung, welche rund 10 000
präkoloniale territoriale Einheiten auf bloße 40 redu-
zierte.
Nach dem Ersten Weltkrieg setzte im Gebiet des auf-
gelösten Osmanischen Reiches ein neuer Kolonialisie-
rungsschub ein. Die arabischen Provinzen des Osmani-
schen Reiches wurden französischem (Syrien, Libanon)
bzw. britischem (Palästina, Transjordanien, Irak) Re-
gime unterstellt. Auch die Deutschland abgenommenen
Kolonien (Ost- und Südwestafrika, Kamerun, Togo etc.)
wurden nicht unabhängig, sondern wechselten nur den
Besitzer. Für diesen neuen kolonialen Schub wurde aller-
dings eine neue Rechtsform gefunden: die des „Völker-
bundmandats“. Die Kolonialmächte Frankreich und
Großbritannien ließen sich ihre Politik sozusagen durch
die neu gegründete Weltgemeinschaft absegnen, ein
sanfter Kolonialismus sollte sich in Ländern, die unter
modernen Bedingungen zur Selbstständigkeit noch
nicht fähig wären, in der Zukunft selbst überflüssig
machen.
1857-1930: Phase der weltweiten
europäischen Dominanz
Das 19. Jahrhundert sah die am weitesten gehende
räumliche Expansion europäischer Macht aller Zeiten.
Im Zeichen des „Freihandelsimperialismus“ wurden
China, Japan und Teile des Osmanischen Reiches (Ägyp-
ten) zur Öffnung ihrer Ökonomien gezwungen. „Hinter-
indien“, also das kontinentale Südostasien, wurde seit
etwa 1820 von den imperialistischen Mächten bedrängt,
wobei zuerst die küstennahen Tiefländer erobert wur-
den: 1852 die Region um Rangun in Burma, 1857 das
heutige südliche Vietnam mit Saigon. Das russische
Zarenreich hingegen drang militärisch im Kaukasus und
in Mittelasien vor und schuf sich interne Kolonien, wel-
che erst nach 1990 mit dem Zusammenbruch der
Sowjetunion wieder unabhängig wurden (Armenien,
Aserbaidschan, die zentralasiatischen Regionen).
Der beispielloseste Vorgang des europäischen Koloni-
alismus spielte sich in den letzten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts ab: Ein ganzer Kontinent, Afrika,
wurde enteignet. Innerhalb weniger Jahrzehnte war die
Aufteilung Afrikas unter den europäischen Mächten
abgeschlossen. Sie erfolgte zunächst zwischen den Kolo-
nialmächten am Schreibtisch. Durch Verträge verpflich-
teten sie sich untereinander (allerdings ohne dass in
Exkurs 8.3
„Die Geburt der Dritten Welt“
Im Jahre 1876 war der US-Präsident Ulysses S. Grant nach
einem Sturm der Entrüstung über seine korrupte Regierung
zurückgetreten; als frischer Pensionär hatte er viel Zeit und
fuhr im Frühjahr 1877 nach Europa und von dort für viele
Monate in die verschiedensten Länder, unter anderem nach
Ägypten, dann in das Dekkan-Hochland in Indien, schließ-
lich nach China. Seine Reiseerfahrungen in diesen sehr ver-
schiedenen Ländern hatten eine Gemeinsamkeit: Sie waren
geprägt von Szenen von Hunger und Elend, ausgelöst durch
schlimme Dürren und Missernten.
Der Ex-Präsident war in ein El-Niño-Jahr geraten, wel-
ches in weiten Teilen der Tropen Dürrekrisen ausgelöst
hatte. Nun tauchte dieses Phänomen auch schon in der Ver-
gangenheit mit gewisser Regelmäßigkeit auf, warum aber
wuchs es sich gerade am Ende des 19. Jahrhunderts zu sol-
chen Katastrophen aus? Der amerikanische Geograph Mike
Davis gibt in seinem Buch „Late Victorian Holocausts. El
Nino Famines and the Making of the Third World“ (deutsch:
Die Geburt der Dritten Welt) zur Antwort, dass „Natur“ erst
im Zusammenhang mit einem spezifischen frühkapitalisti-
schen Wirtschafts- und Politiksystem so tödlich werden
konnte. Indien lieferte noch Waren an Großbritannien, als
die Bevölkerung schon am Verhungern war. Dass zeitgleich
Hungerkrisen in Indien, China und Brasilien (seinen drei
Fallstudien) auftreten konnten, interpretiert er als Folge der
imperialistischen, londonzentrierten Weltwirtschaft - „Arte-
fakte aus der ‚Werkstatt' des liberalen Kapitalismus im
19. Jahrhundert, geschaffen aus einer Allianz von Profit-
streben, Akkumulationsdynamik und ungezügelten Märk-
ten“ (Bohle & Watts 2003).
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