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Einsichten, „in der Gegenübersetzung von Möglich-
keitstraum und Wirklichkeitsraum“ zur Formulierung
von städtebaulichen bzw. urbanen Projekten liege, nicht
aber darin, 1 : 1 umgesetzt zu werden (siehe auch das
obige Zitat von Oscar Wilde mit ähnlichem Tenor).
Coda - die Postmoderne
In einem Vortrag von Klaus Schmals aus dem Jahr 2004
nimmt dieser Rückblick auf die lange Tradition der Uto-
pieproduktion und stellt fest, dass ab den 1970er-Jahren
eine „melancholiereiche Ratlosigkeit“ eingetreten sei,
Ermüdungs- und Resignationserscheinungen, deren Ur-
sache unter anderem in der „Entwertung progressiver -
sozialistischer und sozialdemokratischer - Programme,
Bewegungen und Projekte“ zu sehen sei (Schmals 2004).
Ein tendenzieller Bedeutungsverlust von Utopien im
späten 20. Jahrhundert wird auch von dem Historiker
Joachim Fest ausgemacht, der im Jahr 1991 - nach dem
weitgehenden Zusammenbruch des Staatssozialismus -
das Ende des utopischen Zeitalters generell konstatiert.
Ein Leben ohne Utopie sei der Preis der Modernität
angesichts der „Glücksdiktate“ politischer Utopien, die
stets auch Unfreiheit und Unterdrückung mit sich
gebracht hätten.
Und mit Blick auf Stadtentwicklung und -planung
lässt sich konstatieren, dass „gegen Ende des 20. Jahr-
hunderts eine gewisse Ernüchterung im Hinblick auf die
Planung utopischer und idealer Städte eingetreten“ ist
(Eaton 2001). Die offenkundige Erschöpfung utopischer
Energien gerade mit Blick auf die Entwicklung von
Städten kann eine Reihe von Ursachen haben. Hierzu
zählt zum einen der Verlust an Glaubwürdigkeit diverser
Heilsversprechen des 19. und 20. Jahrhunderts, zum
anderen sicherlich auch die konkret erfahrenen Un-
zulänglichkeiten moderner Stadtentwicklungskonzepte
(z. B. Probleme der Ausweitung des Siedlungskörpers
auf der Grundlage von Funktionstrennungen in der
Stadt).
Und sicherlich trägt die Pluralisierung von Lebens-
formen bzw. -stilen zu einem weiteren Bedeutungsver-
lust überindividueller, visionärer Konzeptionen städti-
scher Entwicklung bei. Beauregard (1992) führt hierzu
aus: „Postmodernism abandons the critical distance of
modernism, substituting an ironic commentary. Totalising
discourses, or master narratives, are criticised for their
authoritarianism and failure to recognise the multiplicity
of voices and communities that comprise society. Notions
of progress and enlightenment are rejected.“
Auf der anderen Seite, so ließe sich mit Oscar Wilde
argumentieren, brauchen Menschen auch in der als
Postmoderne paraphrasierten Epoche nach der Mo-
derne Utopien als Orientierungspunkte, als Wegmarken,
die helfen, den eigenen Weg und die eigene Position zu
Abb. 7.6 Tony Garnier (1917): Une Cité industrielle .
mit sich bringen würde (und zwar im Sinne eines von
Le Corbusier bewusst gewollten zentral-peripheren
Sozialgradienten), propagierte er später angesichts der
ausbleibenden Unterstützung seiner Vorstellungen den
starken Staat, der die Idealvorstellungen des Planers
Realität werden lassen sollte. Im Jahre 1933 wurde
unter maßgeblicher Beteiligung von Le Corbusier die
Charta von Athen verabschiedet, die den von Garnier
entwickelten Vorschlag zur Entflechtung städtischer
Funktionsbereiche aufgriff und zur wesentlichen
Grundlage der Planung und Entwicklung moderner
europäischer Städte im 20. Jahrhundert werden ließ. So
hatte die Charta von Athen unter anderem erheblichen
Einfluss auf die städtebaulichen Leitbilder der 1950er-
und 1960er-Jahre („Die gegliederte und aufgelockerte
Stadt“, „Die autogerechte Stadt“).
Auch in anderen europäischen Ländern lassen sich zu
Beginn bzw. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
parallele Entwürfe von Stadtutopien/Stadtvisionen be-
obachten, zum Beispiel in der Sowjetunion, in Deutsch-
land (Bauhaus) und in Italien (Futuristen). Zum Teil
gab es - gerade bei den Futuristen - die explizite Auffor-
derung zum radikalen Umbau bzw. zur Zerstörung der
überkommenen Städte als Ausgangspunkt einer not-
wendigen gesellschaftlichen Erneuerung („Ergreift die
Spitzhacken, die Äxte und die Hämmer und reißt nieder,
reißt ohne Erbarmen die ehrwürdigen Städte nieder!“,
Manifest des Futurismus von Filippo Tommaso Mari-
netti, erschienen im Le Figaro , Paris, 20. Februar 1909).
Bis auf vereinzelte Ausnahmen (zum Beispiel Brasi-
lia) sind (städtebauliche) Utopien niemals umgesetzt
worden, vor allen Dingen nicht als bauliche und gesell-
schaftliche Neugestaltungen. Von daher drängt sich die
Frage auf, welche Bedeutung Utopien/Stadtutopien
haben, wenn nicht als Blaupausen zu ihrer Verwirk-
lichung. Michaeli (2006) macht deutlich, dass der
eigentliche Wert solcher Utopien in der Gewinnung von
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