Geography Reference
In-Depth Information
Abb. 7.5 Familistère in Guise, Frankreich (Abbildung aus dem 19. Jahrhundert: Im Hintergrund sind die schlossähnlichen Wohnge-
bäudekomplexe, im Vordergrund Theater, Schule und Kinderkrippe zu sehen, rechts die Fabrik.
gründete der französische Fabrikant Jean-Baptiste
André Godin ab 1859 am Stadtrand von Guise das soge-
nannte Familistère , einer ebenfalls schlossähnlichen
Anlage eines dreiflügeligen Wohnkomplexes mit ange-
schlossenen Einrichtungen (Theater, Waschhaus, Ko-
edukationsschule und Park) in unmittelbarer Nähe zu
seiner Fabrik (Abb. 7.5).
All diese Utopien waren, wie Michaeli (2006) fest-
stellt, antiurbane Utopien, da sie die Nähe zur Stadt
explizit nicht suchten, sondern vielmehr abgeschiedene
Systeme innerhalb einer nur wenig urbanisierten Land-
schaft darstellten (ebd.). Diese Tradition setzte sich nach
dem Ersten Weltkrieg weiter fort, unter anderem als
Reflex auf die weiterhin ungelösten Probleme in den
Städten (insbesondere auf die Immobilienspekulatio-
nen). In seiner Schrift „Auflösung der Städte“ aus dem
Jahr 1920 verurteilte Bruno Taut diese Entwicklung und
imaginierte - neben der Auflösung der Städte und der
Abschaffung von Nationalstaaten - die Errichtung von
flächenhaft angelegten, locker gebauten Gartenstädten
(Eaton 2001).
Die meisten Vertreter dieser antiurbanen Utopien
waren allerdings im Grundsatz keine Skeptiker des
Industriezeitalters, sondern setzten sich für eine „aufge-
klärte“ Variante der Industriegesellschaft ein, indem sie
sich beispielsweise für genossenschaftliche Formen der
Vergesellschaftung in entsprechenden Siedlungsformen
aussprachen. Es gab allerdings auch erhebliche Kritik
an bzw. Vorbehalte gegenüber den Ideen der Moderne
(Streich 2005); man sah „in Modernisierung und Fort-
schritt ein grundsätzliches Unheil“ und „gab sich einer
romantischen Rückwärtsgewandtheit hin“. Hierzu lässt
sich beispielsweise William Morris rechnen, dessen Vor-
stellungen von Gemeinschaft stark von mittelalter-
lichen Vorbildern geprägt waren und für den nicht die
Maschine, sondern der Handwerker im Mittelpunkt der
Erschaffung „schöner“ Dinge stand. Zu den Skeptikern
des Industriezeitalters ordnet Eaton (2001) einen gro-
ßen Teil der expressionistischen deutschen Bewegung
zu (und damit auch den bereits erwähnten Bruno
Ta u t ) .
Die Utopien des 19. und 20. Jahrhunderts, die einen
klaren urbanen Bezug hatten, lassen sich ebenso wenig
wie deren antiurbane Gegenstücke auf einen einfachen
Nenner bringen. Ein maßgeblicher und bis heute nach-
wirkender Entwurf stammt von dem Franzosen Tony
Garnier, der mit seiner Veröffentlichung „Une Cité
industrielle. Étude pour la construction des villes“ aus
dem Jahre 1917 einen Vorschlag zur Aufteilung der
Stadt in funktionale Zonen vorlegte (Abb. 7.6). Mit die-
sem ausgesprochen visionären und für die weitere
Stadtentwicklung und -planung impulsgebenden Kon-
zept war jedoch mehr verbunden als nur die Funk-
tionssplittung über den Stadtkörper hinweg: Garnier
erwies sich insofern als „wahrer“ Utopist, als er auch die
Strukturen der Gesellschaft neu dachte, indem er davon
ausging, dass sich das Land in öffentlichem Eigentum
befinden würde, der Staat für die Verpflegung und die
medizinische Versorgung seiner Bürger zuständig sei
und dass Kirchen, die Polizei, Gerichte und auch
Gefängnisse durch die nunmehr herrschenden gerech-
ten Verhältnisse nicht mehr nötig seien (Eaton 2001).
Die Vorstellungen Garniers und anderer Visionäre be-
einflussten auch die Visionen von Le Corbusier, für den
die zeitgenössische Stadt nicht - wie bei Bruno Taut -
abgeschafft, sondern radikal neu gedacht werden
müsse, damit sie den Erfordernissen der Moderne oder,
wie Eaton es formuliert, des „Maschinenzeitalters“
genüge. In zwei seiner zentralen Veröffentlichungen zur
„idealen Stadt“ entwarf Le Corbusier Städte, die nicht
nur vielen Menschen Arbeit und Obdach boten, son-
dern darüber hinaus in ihrem Zentrum nicht mehr
Paläste oder Kirchen beherbergten, sondern Verkehrs-
drehscheiben und Orte des Austausches und der Kom-
munikation. Ein wesentliches Element der physischen
Umgestaltung der Stadt war die Standardisierung der
Baukörper, vor allem der Hochhäuser, deren einzelne
Elemente durch industrielle Fertigungsweisen massen-
haft hergestellt und an Ort und Stelle zusammengefügt
werden sollten. Während Le Corbusier zunächst davon
ausging, dass der radikale Umbau der Stadt auch eine
entsprechende Veränderung der sozialen Strukturen
Search WWH ::




Custom Search