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Exkurs 7.3
„Sozialistische Stadt“ und sozialistische Städte
Sebastian Lentz
In der Gesellschaftstheorie des Sozialismus in der Form,
wie er in der Sowjetunion praktiziert wurde, wurde der ge-
bauten Umwelt explizit eine Funktion zum Erreichen des
Ziels einer auf soziale Gerechtigkeit ausgerichteten Gesell-
schaft zugewiesen. Aus diesem Auftrag heraus entwickel-
ten Architekten und Städtebauer eigene Leitvorstellungen,
wie Städte, die diese Funktion optimal erfüllen sollten,
gestaltet sein müssten. Städte, die entsprechend solchen
theoretischen Vorgaben neu entworfen, geplant und gebaut
wurden, sollen als „Sozialistische Städte“ bezeichnet wer-
den. Die Großschreibung des Adjektivs kennzeichnet, dass
es sich hier um einen feststehenden Begriff handelt, der
von einem theoretischen Konstrukt abgeleitet ist.
Solche Städte existieren in verschiedenen Realisie-
rungsstufen. Der Bezeichnung „Sozialistische Stadt“ ist
stets eine utopische Komponente inhärent, sodass klar sein
sollte, dass eine vollständige Realisierung nicht erreicht
werden kann bzw. dass der Umsetzungsgrad der sozialisti-
schen Gesellschaft innerhalb dieser Städte jeweils empi-
risch überprüft werden muss. Im heutigen Russland bzw. in
den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gibt es eine Vielzahl
von Städten, die seit den 1920er-Jahren geplant und gebaut
wurden. Das bekannteste Beispiel für diese Städte ist die
Schwerindustriestadt Magnitogorsk (Abb. 1) - und zwar da-
durch, dass der sowjetische Volkskommissar der Finanzen
N. A. Miljutin 1930 die theoretische Abhandlung „Soz-
gorod“ (übersetzt „Sozialistische Stadt“, 1992 auch auf
Deutsch in Basel, Berlin und Boston erschienen) geschrie-
ben hatte, nach deren Konzept die Stadt realisiert wurde.
Dieser Stadttypus wurde auch in anderen Ländern mit sozi-
alistischer Planwirtschaft bis in die 1950er-Jahre errichtet.
Beispiele sind Nova Huta (gegr. 1949), ein Stadtteil von Kra-
kau, Eisenhüttenstadt in der damaligen DDR (Planbeschluss
1950) und Dunaújváros (ebenfalls 1949 gegründet) in Un-
garn.
Die allermeisten dieser Sozialistischen Städte waren
ausgesprochene Industriestädte, das heißt, ihre Wirtschaft
ebenso wie ihre innere Organisation war in höchstem Maße
durch die Präsenz von Industriekombinaten, meist sogar
nur eines einzigen Kombinats dominiert. Dieser Umstand
mag die Bedeutung der Industrie für die zivilisatorischen
Ansprüche der sozialistischen Ideologie unterstreichen, die
unter anderem die Bedeutung der urbanen Lebensweise,
die durch ein selbstbewusstes Proletariat verwirklicht wer-
den sollte, für die Gesamtentwicklung der Gesellschaft her-
vorhebt. Dementsprechend liegt die These nahe, dass die
Entwicklung postsozialistischer Städte in hohem Maße Phä-
nomene der postindustriellen Stadtentwicklung aufweist,
zum Beispiel der Deindustrialiserung.
Die baulich-materielle Gestaltung in solchen Städten be-
zog sich auf alle Bereiche sozialen Lebens, die hinsichtlich
eines als sozial gerecht entworfenen, eventuell auch egali-
tären Zusammenlebens erstrebenswert erschienen. Dazu
gehörten sowohl die Grundversorgung mit Gütern und Leis-
tungen des Alltagslebens (z. B. Wohnen) als auch die Orga-
nisation der Gesellschaft (Überführung von traditionell pri-
Abb. 1 a) Originaltitelblatt des Buches von Miljutin „Das Problem des Baus sozialistischer Städte“ (die im Layout hervorge-
hobenen Titelteile ergeben die Losung „StrojSocGorod“ (BauSozStadt). b) Ein Grundrissentwuf des deutschen Städtebauers
Ernst May für die Industriestadt Magnitogorsk (Quelle: Miljutin 1993).
Fortsetzung
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