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Utopien und Stadt
chen. Wie Streich (2005) verdeutlicht, lässt sich Mo-
derne selbst als utopisches Projekt verstehen, da es bei
Modernisierungen auch stets um die Infragestellung des
Bestehenden und die Fokussierung gesellschaftlicher
Aktivitäten auf das noch unbekannte Neue gehe.
Wenn der Veröffentlichung von Utopien zumeist
eine Krise bzw. ein Umbruch der etablierten Ordnun-
gen vorausgegangen war, wie Michaeli (2006) hervor-
hebt, so lassen sich die zahlreichen utopischen Gesell-
schaftsentwürfe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als
eine Antwort auf den tief greifenden gesellschaftlichen
Wandel der Moderne deuten, der insbesondere durch
Industrialisierung, die Vergrößerung sozialer (Klassen-)
Unterschiede, die Verschärfung sozialer Not, eine ex-
treme Verstädterung und die Zunahme städtebaulicher
Probleme geprägt war. Von den vielfältigen Strömun-
gen alternativer Gesellschaftskonzeptionen, die dieser
Umbruch der Moderne mit sich brachte bzw. auslöste,
sollen an dieser Stelle nur wenige herausragende Ent-
wicklungen vorgestellt werden. Interessanterweise be-
zogen sich viele Vorstellungen von einer „besseren“
Gesellschaft nicht nur auf soziale Strukturen, Institu-
tionen und Organisationen, sondern insbesondere auch
auf deren städtebauliche bzw. bauliche Korrelate.
Wenngleich eine Reihe von Utopisten sozialistische
Ansichten vertraten, so kann, laut Eaton (2001), dieser
Personenkreis nicht insgesamt auf einen ideologischen
Nenner reduziert werden. In jedem Fall aber waren
viele der Visionäre des 19. Jahrhunderts „Philanthro-
pen, die aus moralischen und humanitären Gründen
die ungleiche Verteilung des Wohlstands anprangerten
und den Arbeitern bessere Lebensbedingungen bieten
wollten“. Hierzu gehörte, neben anderen, der englische
Textilunternehmer Robert Owen, der als einer der her-
ausragenden englischen „utopischen Sozialisten“ des
19. Jahrhunderts galt. Zur Verbesserung der Arbeitsbe-
dingungen in seiner eigenen Spinnerei in New Lanark
in Schottland führte er eine Reihe von Neuerungen ein,
darunter das Verbot von Kinderarbeit (für Kinder unter
13 Jahren), die Verkürzung des Arbeitstages auf zehn
Stunden sowie die Schaffung von Geschäften und Schu-
len in der Nähe der Fabrik. In einer im Jahr 1817 ver-
öffentlichten Schrift schlug Owen die Schaffung von
Industriedörfern mit bis zu 1500 Einwohnern vor, de-
ren Grundrisse streng geometrisch gestaltet waren und
die neben einer Schule, einem Vortragssaal und An-
dachtsraum auch andere öffentliche Einrichtungen
beherbergen sollten. Diese und andere Vorschläge ver-
suchte er in dem Dorf „New Harmony“ in Indiana
(USA) umzusetzen. Allerdings misslang dieser Versuch
zur Schaffung einer „idealen Gemeinschaft“ ebenso wie
der letzte, den Owen nach seiner Rückkehr aus den
USA in Hampshire, England unternahm.
Im Mittelpunkt des Schaffens von Owen stand ein
sozialreformerischer Modellansatz, dem sich weitere
Bemerkenswerterweise beinhalten zahlreiche Utopien
explizite Projektionen gesellschaftlicher Wunschzustän-
de auf Städte, darunter auch Morus' „Utopia“. Die Insel
Utopia besteht aus 54 Städten in gleichmäßiger Vertei-
lung über die gesamte Insel. Diese Städte verfügen über
ein ähnliches Erscheinungsbild, was nach Eaton (2001)
„nicht nur den Gleichheitsgedanken [unterstreicht],
sondern auch Platons Auffassung, dass jede Abweichung
von seinem idealen Modell von Nachteil sei“. Nach Auf-
fassung von Bloch (1959/1985, zitiert in Streich 2005)
stellen die utopischen Entwürfe von Morus und Tom-
maso Campanella 100 Jahre später („Der Sonnenstaat“
aus dem Jahre 1602) zwei Phänotypen von Utopien dar,
deren wesentliche Unterschiede als Gegensatz von Frei-
heit und Ordnung, von liberal und autoritär identifiziert
werden. In dieses dichotome Spannungsfeld lassen sich
die meisten der auf Städte bezogenen Utopien bis heute
einordnen.
Ein plausibles Argument, warum Morus die Bedeu-
tung von Städten für das Staatswesen besonders betont,
liefert Michaeli (2006), wenn er hervorhebt, dass der
gesellschaftliche Gegenentwurf in Utopia als Kritik an
der bestehenden territorialen Ordnung Englands zu
Beginn des 16. Jahrhunderts gedeutet werden kann, die
eine Entwicklung der Städte gemäß ihres Potenzials ver-
hindere. Dagegen hebt Michaeli (2006) an anderer Stelle
hervor, dass seit Erscheinen des Textes von Morus die
Vorstellungen zur Gestaltung einer besseren Gesellschaft
in utopischen Texten in der Mehrzahl aller Fälle antiur-
bane Gestalt annehmen. Zurückgeführt wird dies auf
das Risiko der kritischen Konzentration von Macht in
Städten. Allerdings: Auch die antiurbanen Idealvorstel-
lungen gesellschaftlicher Ordnung sind notwendiger-
weise rückgekoppelt an das Urbane, und sei es nur in der
negativen Spiegelung der wahrgenommenen und ange-
prangerten Missstände in den Städten. In der folgenden
Diskussion sollen beide Denktraditionen (urbane und
antiurbane Vorstellungen zur Gestaltung einer „besse-
ren“ Gesellschaft) vorgestellt werden.
Utopien und Stadtentwicklung
in der Moderne
Der Begriff „Moderne“ lässt sich nicht umstandslos auf
eine knappe Formel bringen, zumal in unterschied-
lichen Kontexten Verschiedenes gemeint ist. Verstanden
als Epoche gesellschaftlicher Entwicklung wird hiermit
zumeist Industrialisierung, Säkularisierung, Rationa-
lität, Fortschrittsglaube und die Autonomie gesellschaft-
licher Subsysteme wie Politik, Recht und Ökonomie ver-
standen, deren Ursprünge im späten 18. Jahrhundert
liegen und die bis weit in das 20. Jahrhundert hineinrei-
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