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städte verflochten ist und das von Planern auch als Fes-
selung und Lähmung empfunden wird.
An den Argumenten gegen den Umbau des Stuttgar-
ter Hauptbahnhofs ist auch zu erkennen, dass es in der
Diskussion um die Stadtgestaltung keineswegs nur um
ein emotionales oder im weitesten Sinne soziales Argu-
ment geht, sondern auch um den Anspruch mündiger
Bürger, die infrastrukturellen Entwicklungen und die
damit verbundenen finanziellen Verpflichtungen der
Kommune und der Gebietskörperschaften über die
unmittelbaren Zeitpunkte von Wahlen hinaus im Sinne
einer Zukunftsfähigkeit ihrer Stadt mitzubestimmen.
Ein solches Engagement führt zu governance , sofern alle
Beteiligten sich an gewisse Spielregeln halten, und ver-
weist damit auf die Ideale der Stadtregierung, die schon
in den mittelalterlichen Stadtverfassungen europäischer
Städte angelegt waren und seit der frühen Neuzeit mit
einem erstarkenden Bürgertum weiterentwickelt wur-
den. Solche Stadtverfassungen waren allerdings stets
umkämpft und mussten sich vor den Realitäten von
Macht und Interessenausgleich bewähren, sodass ihnen
auch stets die Ideale von guter Herrschaft und damit ein
utopisches Element innewohnten.
Abb. 7.3 Titelholzschnitt aus Thomas Morus' Roman „Utopia“
(1516).
Europäische Stadtutopien als Ideen-
schmiede für die Stadtentwicklung
in der Moderne und Postmoderne
Gerald Wood
literarische Gattung wie auch für andere Formen von
Utopien war der im Jahre 1516 erschienene Staatsroman
von Thomas Morus „Utopia“ (Abb. 7.3). In diesem
Roman entfaltet Morus das Idealbild einer räumlich-ter-
ritorialen Ordnung auf der Insel Utopia, das in scharfem
Kontrast zu den damals in England herrschenden gesell-
schaftlichen Verhältnissen konturiert wird. Wie Streich
(2005) ausführt, beschreibt „Utopia“ „die Sozialutopie
einer liberalen, toleranten Gesellschaft auf der Grund-
lage einer egalitären Staatsverfassung“. Von Bedeutung
ist, dass der auf das Griechische zurückgehende Begriff
„Utopia“ doppelt gelesen werden kann: nämlich als „Ort
des Wohlseins“ als auch als „kein Ort“. Utopien, die in
der Folge entstanden, lassen sich durchaus ähnlich dop-
pelt kodiert verstehen, nämlich als Orte, die einen
(gesellschaftlichen) Idealzustand beschreiben und die
sich gleichzeitig nirgends dingfest machen lassen. Ge-
rade weil Utopien als diskursive Entwürfe gesellschaft-
licher Verhältnisse auf keinen konkreten Ort verweisen,
liegt ihre wesentliche Funktion in der Orientierung
öffentlicher Diskurse über die zukünftige gesellschaftli-
che Entwicklung, wie das Eingangszitat von Oscar Wilde
belegt.
„Is this Utopian? A map of the world that does not include
Utopia is not worth even glancing at, for it leaves out the
one country at which Humanity is always landing. And
when Humanity lands there, it looks out, and, seeing a bet-
ter country, sets sail. Progress is the realisation of Utopias“
(Oscar Wilde „The Soul of Man Under Socialism“ 1891).
Die hier aufgeworfene und zugleich beantwortete Frage
bezieht sich auf das anarchistische Weltbild, das Oscar
Wilde in seinem Essay „The Soul of Man Under Socia-
lism“ im Jahre 1891 entwarf. In diesem Essay geht es im
Wesentlichen um eine radikale Kritik an den bestehen-
den gesellschaftlichen Verhältnissen im 19. Jahrhundert
in Großbritannien sowie gleichermaßen darum, einen
alternativen Entwurf der (individuellen) Lebensführung
aufzuzeigen.
Dieser Essay ist Teil einer langen Tradition von Uto-
pien, deren Anfänge als literarisches Genre häufig bei
Platon (Streich 2005) festgemacht werden. Im Mittel-
punkt von Utopien steht der Entwurf einer Gegenwelt
zur aktuell bestehenden Welt, in der ein „virtueller und
zeitlich paralleler idealer Zustand“ entworfen wird, „um
daraus Erkenntnisse für die aktuelle Realität gewinnen
zu können“ (Michaeli 2006). Namensgebend für die
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