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Öffentlicher Raum und
städtische Selbststeuerung
Zu den historisch ältesten Eigenheiten der solcherma-
ßen als europäisch verstandenen Stadt gehört ihre Ver-
fassung als Polis, die in der griechischen Antike wurzelt,
und die Faszination für das demokratische Verfahren
der Entscheidungsfindung, die politische Öffentlichkeit
und die dazu dienenden öffentlichen Räume. Dies
manifestierte sich im zentralen Platz griechischer Städte,
der Agora, die sowohl Markt- als auch Gerichtsort war.
Da zudem kultische Handlungen auf der Agora aufge-
führt wurden, war sie Symbol der Autonomie und des
städtischen Lebens in der griechischen Stadtkultur
schlechthin. Eine ähnliche Funktionskonzentration war
auch im Forum römischer Städte zu beobachten. Der
Mythos dieser Plätze als Orte der Herstellung gesell-
schaftlicher Vernunft und Selbststeuerung hat sich bis
heute erhalten. Die Autonomie der Städte wurde organi-
satorisch mit ihrer Integration in Territorialstaaten um
wichtige Kompetenzen verringert, indem die politische
Willensbildung für das vergrößerte Gemeinwesen in die
Hauptstädte verlagert wurde. Nicht zuletzt der techno-
logische Wandel bei den Medien hat die Produktion
politischer Meinungen in Zeitungen und Internet verla-
gert. Aus den zentralen Straßen und Plätzen der Städte
ist die politische Konsensfindung daher im Alltag ver-
schwunden - sie werden nur noch in besonderen Fällen
zu Bühnen der politischen Repräsentation. Nicht zu
unterschätzen ist allerdings ihre Bedeutung für die all-
tägliche soziale Integration und Reproduktion der
Stadtgesellschaft (Abb. 7.1). So ist zu erklären, dass die
tatsächliche oder gelegentlich auch nur vermeintliche
Privatisierung öffentlichen Raumes höchst kritisch be-
trachtet wird. Für die Lebensqualität europäischer
Städte wird die Aufenthaltsqualität in öffentlichen Räu-
men als mitentscheidend erachtet, die jederzeit als Mög-
lichkeitsräume zur Formierung öffentlicher Meinung
fungieren sollen (Selle 2004). Das politische Erbe aus der
Selbstverwaltung der Städte mündet in die erste Forde-
rung der Charta von Leipzig nach der Herstellung und
dem Erhalt qualitätvoller öffentlicher Räume.
Mit einer solchen Idealfunktion des öffentlichen
Raums, der dem Interessenausgleich zwischen Indivi-
duen und Herrschaft dient, korrespondiert als Beson-
derheit der europäischen Stadt der Munizipalsozia-
lismus. Mit diesem Begriff wird die Fürsorgepflicht
städtischer Behörden aber auch des Staates gegenüber
den Bürgern der Stadt umschrieben. Er geht auf die
Autonomie der mittelalterlichen Stadt zurück und hat
sich insbesondere in den rasant wachsenden Städten
während der Industrialisierung professionell weiterent-
wickelt. Er beinhaltet zum Beispiel die Aufgabe der
Wohnungsversorgung im Rahmen von Kommunalpoli-
tik, sodass in vielen Staaten Europas größere Bestände
Abb. 7.1 Weitgehend für Fußgänger reservierter Straßenraum
erlaubt entspannte Begegnungen der Stadtbewohner im Alltag
- hier in Santiago de Compostela (Foto: Sebastian Lentz).
sogenannter Sozialwohnungen existieren - und zwar
weit überwiegend in Städten. In Kombination mit Ge-
setzen, die die Rechte von Mietern gegenüber den Eigen-
tümern schützen, ist so ein juristisches Instrumenta-
rium, das in den Wohnungsmarkt eingreift, geschaffen
worden, das rein ökonomische Dynamiken in den Woh-
nungsbeständen, wie sie aus den USA bekannt sind,
weitgehend dämpfen und soziale Polarisierungen ver-
hindern soll. Weitere Aufgabenbereiche des Munizipal-
sozialismus sind die Versorgung mit Infrastrukturen zu
den Daseinsgrundfunktionen wie Bildung, Erholung
und die Nutzung von öffentlichen Nahverkehrssyste-
men. Darüber hinaus ist natürlich auch die Stadtent-
wicklungsplanung bis hin zur Bauplanung und der Ge-
staltung des Umfelds von Wohnquartieren zum Wohle
der Bewohner diesem Aufgabenverständnis städtischer
Selbststeuerung zuzurechnen. Gerade solche Leistungen
benötigen eine gewisse Mindestzahl, vor allem aber
Mindestdichte von Bewohnern, um zu vertretbaren
Kosten bereitgestellt zu werden. Vor diesem Hinter-
grund sind abnehmende Einwohnerzahlen, sei es durch
Suburbanisierung, sei es durch Schrumpfungsprozesse,
eine Bedrohung für die Funktionsfähigkeit der Stadt
(Abb. 7.2 und Exkurs 7.1).
Eine Überlegung Webers auf der Suche nach Grün-
den für die Entstehung des produktiven Kapitalismus in
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