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Exkurs 7.1
Das Leitbild der kompakten und durchmischten
europäischen Stadt
Hans Gebhardt
In zahlreichen Publikationen der letzten Jahre wird - mitun-
ter etwas holzschnittartig - die europäische Stadtentwick-
lung der US-amerikanischen gegenübergestellt und es wird
festgestellt, dass eine allmähliche „Amerikanisierung“ euro-
päischer Städte stattfinde. Gemeint ist damit, dass gleich-
sam aus dem Leim gegangene, über die Fläche gleichsam
„ausgelaufene“ gesichtslose Stadtlandschaften entstünden,
mit kaum mehr steuerbaren Verkehrsproblemen. Während
die Innenstädte und ihre Wohnungsbestände zunehmend
verrotteten, entstünden am Rand der Verdichtungsräume
rein funktionale „Zwischenstädte“, geprägt durch Gewerbe-
und Baumarktruinen und eine ästhetisch belanglose Archi-
tektur.
Solchen Entwicklungsprozessen versucht die Leitvor-
stellung der „kompakten und durchmischten“ Stadt ent-
gegenzuwirken. Dieses Leitbild findet sich in den europä-
ischen und nationalen Programmen zur Stadtpolitik ebenso
wie in zahlreichen Stadtentwicklungsplänen und städtebau-
lichen Konzepten einzelner Großstädte.
Das Konzept geht von einer im Vergleich zur nordameri-
kanischen Stadtentwicklung spezifischen historischen Prä-
gung europäischer Städte sowie einer daraus resultieren-
den Stadtgestalt aus. Ihre charakteristischen Merkmale
sind über einen langen Zeitraum gewachsene Altstädte mit
baulichen Elementen wie Kirche, Marktplatz und Stadt-
mauer, eine damit verbundene funktionale Dominanz der
Innenstädte und eine polyzentrische Siedlungsstruktur.
Innen- bzw. Altstädte bilden, anders als in der US-amerika-
nischen Stadt, beim Leitbild der europäischen Stadt eine
zentrale Komponente der Stadtkultur. Diese Struktur gilt es,
durch geeignete Rahmenplanungen zu erhalten (Abb. 1).
Als konstitutiv hat sich hierfür seit den 1990er-Jahren
das Leitbild der kompakten und durchmischten Stadt erwie-
sen. Vier zentrale Zielelemente lassen sich dabei unter-
scheiden.
baulich oft weitständigen Großwohngebiete der 1960er-
Jahre.
Nutzungsmischung: Das bedeutet die Abkehr von dem
seit den 1930er-Jahren propagierten Leitbild der Funk-
tionsgesellschaft mit ihren räumlich deutlich getrennten
„Daseinsgrundfunktionen“. Einstmals geschaffen, um
die ungesunde Mischung von Wohnen und Industrie zu
entflechten, hat die Funktionstrennung in europäischen
Städten - Wohnen, Arbeit, Erholung etc. - zu einem er-
heblichen Flächenverbrauch und stetig zunehmenden
Verkehrsströmen zwischen den Standorten dieser Funk-
tionen geführt. Das Leitbild der kompakten und durch-
mischten Stadt fordert hier eine Trendumkehr weg von
monofunktionalen Strukturen hin zu möglichst feinkör-
nig durchmischten Stadtteilen.
Erhaltung öffentlicher Räume: Nicht nur US-amerikani-
sche Städte, sondern auch die Großstädte in Südame-
rika oder Südostasien sind durch eine wachsende Ten-
denz zur Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und
Räume gekennzeichnet. Stadtentwicklung wird immer
häufiger in Form von Public Private Partnership (PPP) teil-
weise in die Hände großer Immobilienentwickler und
Konzerne gelegt, neue städtische Einrichtungen wie
Shopping Malls oder kommerzielle Erlebniszentren
überdecken als „privatisierter“ Raum immer größere Flä-
chen auch in der Innenstadt. All dies läuft dem alten
Ideal des öffentlichen Stadtzentrums mit Markplatz,
Rathaus etc. zuwider. Das Leitbild der kompakten und
durchmischten Stadt fordert daher eine Stützung öffent-
lichen Lebens in der Stadt durch Belebung von Erdge-
schosszonen, Straßenräumen und Plätzen.
ökologisch aufgewertete Räume: Die vielfachen Umwelt-
belastungen in Städten, in der Vergangenheit vor allem
durch die Industrie, heute besonders durch den Indivi-
dualverkehr, sollen durch eine nachhaltige, ökologisch
orientierte Stadtplanung reduziert und dadurch die Auf-
enthaltsqualität in den Quartieren verbessert werden,
insbesondere auch durch nahe gelegene Freizeit- und
Versorgungseinrichtungen. Erholung soll im Wohnum-
feld möglich sein.
hohe Bebauungsdichte: Gemeint ist damit eine (an-
zustrebende) Trendumkehr von disperser Siedlungsent-
wicklung und ungesteuerter Suburbanisierung hin zur
verdichteten Stadt. Durch qualitative wie auch quanti-
tative Dichte im Städtebau soll ein Ausufern der Sied-
lungen in die Fläche verhindert werden. Der „Innenent-
wicklung“ und „Nachverdichtung“ soll ein Vorrang vor
weiterer Siedlungsexpansion eingeräumt werden.
Standorte von Nachverdichtungsprozessen können
unter anderem ehemalige Industrieareale, Bahnareale
oder aufgegebene Militärstandorte sein, aber auch die
Natürlich gibt es keine objektiven Bewertungsmaßstäbe bei
solchen Leitbildern, sie sind nicht per se gut oder schlecht.
Letztlich stellt es immer eine Wertentscheidung der jeweili-
gen Gesellschaft dar, welches Leitbild der zukünftigen Sied-
lungs- und Verkehrsentwicklung akzeptiert wird. Ohne Leit-
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